Sybille Stamm ist die ehemalige Leiterin des ver.di-Landesbezirks Baden-Württemberg

In Stuttgart gehen die Uhren anders. Die Zeit wird geteilt in die vor und die nach dem 30. September.

Am 30. September hat die Polizei eine seit Monaten friedlich gegen das milliardenschwere Bahnprojekt S 21 demonstrierende Protestbewegung zusammengeknüppelt und dabei beherzt protestierenden Schülerinnen und Schülern eine Lehrstunde in Sachen Demokratie erteilt, die sie wahrscheinlich ihr Leben lang nicht vergessen werden. Mehr als 400 Verletzte sind das Ergebnis. Die mehr als tausend Schüler demonstrierten unter der Losung "Bildung statt Stuttgart 21". In ihren Schulen fällt der Putz von den Wänden, Stunden fallen aus, weil jahrelang am Lehrpersonal gespart wurde. Geld für zeitgemäße Lernmittel ist nicht vorhanden. Und das ist einer der Kernpunkte des Widerstands gegen S 21: die soziale Frage.

Während Bund, Land und insbesondere die Kommunen immer weniger Geld einnehmen und ihnen zugleich immer mehr Aufgaben zugeteilt werden, sollen für ein ehrgeiziges Bahnprojekt nach Schätzung von Experten in den nächsten zehn Jahren wahrscheinlich mehr als elf Milliarden ausgegeben werden. Ein Projekt, das - 1997 beschlossen - angesichts der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise nicht mehr in die Landschaft passt. Das Geld wird anderswo gebraucht - in der Bildung, in der öffentlichen Daseinsvorsorge.

Der wachsende Widerstand - pro Woche bewegen sich etwa 100000 Menschen in Stuttgart auf Kundgebungen, Demonstrationen, Veranstaltungen - repräsentiert einen breiten Teil der Bevölkerung.

Man grüßt sich zwischenzeitlich in Bussen, Trambahnen, Kneipen mit "Oben bleiben". Das meint: Wir wollen keinen unterirdischen Durchgangsbahnhof. Da treffen sich Junge und Alte, Konservative und Linke, Bürgerinnen und Bürger aus Stuttgarts edlen Halbhöhenlagen ebenso wie H&M-Verkäuferinnen mit Ingenieuren von Bosch, Managern und Angestellten mit Aktenköfferchen, die direkt von der Arbeit kommen, jeden Montag um 18 Uhr für eine Stunde am Bahnhof oder im Park zum "Schwabenstreich". Regelmäßig zwischen 15000 und 30000 Menschen.

Die Motive sind unterschiedlich. Einigen geht es um den denkmalgeschützten Bonatzbau, anderen um "ihren" Park, in dem 300 teilweise 100 Jahre alte Bäume gefällt werden sollen. Die Ökologie der "Stadt im Tal" ist gefährdet, wenn die grüne Lunge fehlt. Wieder andere sorgen sich um die vielen wertvollen Mineralquellen, wenn der Bahnhof unter die Stadt gelegt wird. Und dann ist da eben die soziale Frage und die der Wirtschaftlichkeit. Der innere Zusammenhalt des Widerstands aber ist die Demokratie-Frage. Die Menschen wollen nicht mehr bevormundet, diszipliniert, hintergangen und belogen werden. Jahrelang wurden wichtige Gutachten geheim gehalten, Gefahren für die Umwelt verharmlost, Zahlen runtergerechnet. Das jüngste Beispiel: die 25 alten Bäume, die in der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober nach dem beispiellosen Polizeieinsatz gefällt wurden, hätten auf Anweisung des Eisenbahnbundesamtes gar nicht gefällt werden dürfen. Es ist die Arroganz der Macht, die die Menschen nicht mehr dulden wollen.

Zwei Drittel der Menschen in Stuttgart und die Mehrheit in Baden-Württemberg sind gegen S 21, das "Milliardengrab", wie es hier genannt wird - aber das interessiert die politische Klasse nicht. Standard-Sprechchöre quer durch alle Gesellschaftsschichten lauten deshalb "Mappus weg" und "Lügenpack". In den Umfragen verlieren die Parteien wegen S 21 - CDU, FDP und SPD sind auf ihrem historischen Tiefpunkt angelangt. Bahnchef Grube sagt: "Ein Recht auf Widerstand gibt es nicht." Doch, das gibt es. Und das müssen sich die Menschen nicht erst durch Verfassungsrechtler bestätigen lassen; sie wissen es. In dieser Bewegung sind viele Menschen zu Bahnspezialisten geworden, haben sich in Geologie und Ökologie schlau gemacht, Planfeststellungsverfahren studiert, fordern einen Fakten-Check, weil sie den Herrschenden nicht mehr trauen.

Und die Gewerkschaften? Am 30. Januar hat die DGB-Bezirkskonferenz mit großer Mehrheit beschlossen, dem Bündnis gegen S 21 beizutreten - bis heute aber verweigert die Mehrheit im Bezirksvorstand die Umsetzung dieses Beschlusses. Das Bündnis gegen S 21 hat derweil angeboten, am 13. November auf eine eigene Kundgebung zu verzichten und zur Teilnahme an der geplanten Gewerkschaftskundgebung aufzurufen, weil S 21 und Sozialabbau zwei Seiten einer Medaille sind. Sind es die Interessen der Bauindustrie und der Automobilkonzerne, die eine Rolle spielen? Die geplante Schnellbahntrasse Stuttgart-Ulm ist zu steil für den Güterverkehr - also mehr Lastwagen verkaufen, Autobahnnetz statt Regionalverkehr ausbauen? Ist es die Hoffnung auf Arbeitsplätze? Die Solidaritätsadresse von Frank Bsirske an die Protestbewegung hat mehr als 50000 Menschen begeistert. Und ver.di Stuttgart ist immer vor Ort. Der Widerstand hat symbolischen Charakter. Es wäre gut, wenn sich die Gewerkschaften beherzter in den Protest einreihen würden. Sie können daraus viel lernen.

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Es ist die Arroganz der Macht, die die Menschen nicht mehr dulden wollen