Ausgabe 10/2010
Sie vergessen nicht
Sie haben ihre Väter verloren, weil die sich für freie Gewerkschaften und die Rechte der Arbeiter einsetzten. Dafür mussten sie sterben. Ihre Kinder erinnern an sie, immer wieder. Sie haben die Organisation "Söhne und Töchter gegen das Vergessen und gegen Straflosigkeit" gegründet
Von links nach rechts: Gustavo Chacón, Shaira Rivera und Yessica Hoyos sitzen am Bolivar Square in Bogota
Ein Bürohochhaus, 39 Etagen, direkt neben dem berühmten Goldmuseum im Zentrum von Bogota. Vor dem Eingang kontrollieren mit Maschinenpistolen bewaffnete Soldaten jeden, der sich dem Gebäude nähert. In der Eingangshalle ziviles Personal, auch es trägt auffällig unauffällig Waffen. Jeder Besucher muss sich fotografieren lassen, bevor er die elektronischen Schranken passieren darf. Das müssen auch die Mitglieder einer ver.di-Delegation aus Deutschland über sich ergehen lassen, die an diesem Tag die Corporatión Colectivo de Abogados "José Alvar Restrepo" besuchen, ein Anwaltskollektiv für Menschenrechte, das im 25. Stockwerk dieses Hochhauses seinen Sitz hat.
"Für Kolumbianer scheint das alltäglich zu sein", wundert sich Herbert Beck vom ver.di-Gewerkschaftsrat und Mitglied der Delegation. "Ob es dem Schutz derer dient, die in diesem Haus arbeiten, oder eher Besucher fernhalten und überwachen soll", ist den deutschen Gewerkschaftern allerdings nicht klar, wie so vieles in diesem südamerikanischen Land.
Täter werden gedeckt, Verbrechen geduldet
Das Anwaltskollektiv, das sie besuchen, kümmert sich um die Aufklärung von Morden an Gewerkschaftern, unterstützt die Angehörigen rechtlich und macht die Fälle öffentlich. 42 Gewerkschafter wurden allein in diesem Jahr ermordet oder verschleppt. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft zeigen wenig Interesse, die Fälle aufzuklären. Oftmals, heißt es, seien sie selbst in die Morde verwickelt, decken die Täter, dulden die Verbrechen. Die Anwälte versuchen, international Aufmerksamkeit zu wecken, denn nur das bedeutet wirksamen Schutz.
Empfangen werden die Deutschen von der 26-jährigen Rechtsanwältin Yessica Hoyos Morales, sie ist für den Bereich Gewerkschaften zuständig. Ihr Vater Jorge Dario Hoyos Franco war selbst Gewerkschafter. Im Jahr 2001 wurde er von bezahlten Mördern umgebracht. Mindestens ein Polizist war in den Mord verwickelt. Zu 40 Jahren Gefängnis wurde er, Carlos Alberto Monroy, wegen des Mordes an Yessicas Vater verurteilt. Nur: Der Polizist lebte zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht mehr, sondern war schon ein Jahr zuvor gestorben. Gegen die Hintermänner wird bis heute nicht ermittelt.
Yessica hat an diesem Morgen noch andere Angehörige von entführten und ermordeten Gewerkschaftern eingeladen. Gustavo Chacón erzählt von seinem Vater Manuel Chacón, der am 15. Januar 1988 ermordet wurde. Ein bekannter Gewerkschaftsführer, er war sehr hilfsbereit und mobilisierte Landarbeiter mit Poesie und Musik. Eines Tages erhielt sein Vater einen fingierten Telefonanruf. Der Anrufer behauptete, er habe Probleme mit seinem Lohn, die Bank wolle ihm das Geld nicht auszahlen, und bat ihn um Hilfe. Mit diesem Trick hatte man Chacón aus seinem Haus gelockt. Als er an der Bank ankam, um dem vermeintlichen Kollegen zu helfen, erwarteten ihn dort Marinesoldaten auf einem PickUp. Mit drei Schüssen aus verschiedenen Waffen streckten sie ihn nieder. Ein Zeuge hat einen der Soldaten erkannt. Einzige Konsequenz: Der Soldat wurde aus der Marine entlassen, weiter ist nichts passiert.
Danach floh die Mutter mit Gustavo und seinen Geschwistern nach Bogota. Dort traf Gustavo immer mehr Kinder von ermordeten und gefolterten Gewerkschaftern aus Argentinien, Chile, Kolumbien und anderen lateinamerikanischen Ländern. Alle hatten ein ähnliches Schicksal hinter sich. Nirgends wurden die Mörder verfolgt. Das war für viele der Kinder von Gewaltopfern Anlass, zusammen mit Yessika Hoyos im Juli 2007 die Organisation "Söhne und Töchter gegen das Vergessen und gegen Straflosigkeit" zu gründen. Ihr Ziel ist, die Erinnerung an die ermoderten Gewerkschafter wach zu halten und dafür zu sorgen, dass die Hintermänner verfolgt und bestraft werden.
Gewerkschafter demonstrieren, Polizisten marschieren auf
Für die Opfer wird es immer schwieriger zu beweisen, dass staatliche Stellen an den Übergriffen beteiligt sind. Das Regime hat gelernt. Während früher Polizeifahrzeuge vorgefahren sind, um Gewerkschafter gewaltsam aus ihren Wohnungen zu holen, tragen die Fahrzeuge heute keine Kennzeichen mehr und die Beamten sind nur noch schwarz vermummt gekleidet. Die Täter hinterlassen so keine Spuren mehr und können deswegen nur schwer verfolgt werden.
Während oben im 25. Stock die Angehörigen den Teilnehmern der deutschen Gewerkschaftsdelegation das Schicksal ihrer Familien schildern, hört man unten auf der Straße Polizeisirenen. Die Deutschen bekommen ein realistisches Bild des politischen Alltags in Kolumbien. Ein Blick aus dem Fenster zeigt: Polizisten marschieren auf, Straßensperren werden aufgebaut und die Zufahrtstraßen zum Platz vor dem Präsidentenpalast abgeriegelt. Die Polizisten tragen martialische Helme und sind mit Schlagstöcken und Schutzschildern ausgestattet. In den Nebenstraßen fahren gepanzerte Fahrzeuge. Die Lehrergewerkschaft hat an diesem Tag zum Protest aufgerufen und macht mit Sprechchören und Lautsprechern darauf aufmerksam, dass viele Lehrer in Kolumbien seit Monaten ohne Gehalt sind.
Wenn es doch einmal Augenzeugen von Verbrechen an Gewerkschaftern gibt, werden diese eingeschüchtert. Das berichtet Shaira Rivera, die Tochter von Guillermo Rivera. Ihr Vater war Präsident der Gewerkschaft Sinserpub, in der sich die Beschäftigten des Rechnungshofs organisiert haben. Als er eines Morgens seine kleinste Tochter in den Kindergarten brachte, wurde er von einer Patrouille der Staatspolizei aufgegriffen. Eine Zeugin sah, wie Guillermo Rivera in ein Polizeifahrzeug gezogen wurde. Sie will sich aber nicht mehr daran erinnern. Sie hat Drohungen erhalten, hat nun um ihr eigenes Leben Angst. Guillermo Riveras Leiche wurde 85 Tage später Kilometer entfernt aufgefunden. Obwohl der Körper bereits verwest war, konnte man noch feststellen, dass er gefoltert und erwürgt worden ist. Trotzdem gibt es bis heute weder Ermittlungen noch eine Anklage.
Freibriefe zur Hatz und 150 Euro Kopfgeld
Gewerkschafter verschwinden und werden ermordet, ohne dass sich jemand aufregt, denn Gewerkschaften gelten in Kolumbien als die Bösen und Tarifverträge als Teufelswerk. Alles, was nach links riecht, wird in Kolumbien mit Guerilla gleichgesetzt. Sogar der ehemalige Präsident Uribe war sich auf einer Reise in den USA nicht zu schade, Gewerkschaften öffentlich als Guerillas zu bezeichnen. Für Isolde Kunkel-Weber, Vorstandsmitglied von ver.di, die mit in Kolumbien war, steht fest: "Das ist dann der Freibrief zur Hatz auf Gewerkschafter." Mörder bekommen vor manchen Gerichten sogar einen Freibrief, wenn sie versichern, sie hätten geglaubt, es handele sich um Guerillas. Die Öffentlichkeit übernimmt anschließend gerne diese Auffassung: Ein Guerillero hat es verdient, umgebracht zu werden. Erregung darüber gibt es in diesem Lande auch deshalb kaum, weil unabhängige Medien fehlen.
Gewerkschafter werden nicht nur umgebracht, sondern sie und ihre Familien werden auch noch diffamiert. Die Morde an Gewerkschaftern werden in der Öffentlichkeit oft in andere Zusammenhänge gestellt, zum Beispiel als Beziehungstat aus Eifersucht. Leonidos Gomes war Gewerkschafter bei der Citibank, hatte gewerkschaftliche Bildungsarbeit aufgebaut und in Schulungsmaterial die Rolle der Finanzwirtschaft in diesem System aufgeklärt. Im März 2008 organisierte er eine Demonstration, acht Wochen später wurde er in seiner Wohnung an den Händen gefesselt, mit Messerstichen umgebracht. Die Wohnungseinrichtung wurde zertrümmert, Weinflaschen zerschlagen und die Glasscherben in der Wohnung verstreut, als hätte eine eifersüchtige Geliebte die Tat begangen.
Mit Entsetzen erfährt die ver.di-Delegation, dass es in diesem südamerikanischen Land regelrechte "Preistabellen" für die Ermordung von Menschenrechtlern gibt. Die Liquidation eines Gewerkschafters kostet nicht mehr als 150 Euro. Dank der Aktivitäten wie der Corporatión Colectivo de Abogados kommen die Mörder inzwischen zwar vor Gericht. Gesteht der Täter aber, Kopfgeld kassiert zu haben, kann er mit einem milderen Urteil rechnen. Die Gerichte unterstellen dann ein finanzielles Interesse, der Mord wird zum Wirtschaftsdelikt heruntergespielt. Die Hintermänner und Auftraggeber bleiben straflos, wieder einmal.
Gewerkschafter verschwinden und werden ermordet, ohne dass sich jemand aufregt, denn Gewerkschaften gelten in Kolumbien als die Bösen und Tarifverträge als Teufelswerk