Nach 127 Jahren verbannt die schwarz-gelbe Bundesregierung die paritätische Finanzierung im Gesundheitswesen in die Geschichtsbücher. Mit Kopfpauschalen in der Kranken- und Pflegeversicherung treibt sie die Ungleichheit im Land voran und die Gewinne der Versicherer in die Höhe

Sag beim Abschied nicht noch Servus

Es war eine Errungenschaft, ein sozialer Fortschritt von historischer Dimension: die Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung vor 127 Jahren durch den damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck. Den trieb zwar weniger der Wille, die Welt sozialer zu gestalten, als vielmehr die Befürchtung, es könne wegen der harschen Not der Arbeiter zu Aufständen kommen. Aber wie dem auch sei, der Grundstein für das Solidarprinzip im Gesundheitswesen war gelegt. Und der Solidargedanke hat über die vielen Jahrzehnte getragen - ein Gesundheitswesen, paritätisch finanziert, also zu gleichen Teilen durch Beiträge der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Damit ist es nun vorbei.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung ist erklärtermaßen angetreten, das Solidarprinzip in die Geschichtsbücher zu verbannen. Darauf haben sich die Regierungsparteien bereits im Oktober 2009 in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt, wenn auch bemerkenswert verklausuliert: "Langfristig wird das bestehende Ausgleichssystem überführt in eine Ordnung mit mehr Beitragsautonomie, regionalen Differenzierungsmöglichkeiten und einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen, die sozial ausgeglichen werden." "Einkommensunabhängige Arbeitnehmerbeiträge", besser bekannt als Kopfpauschale, nach der alle Versicherten den gleichen Beitrag leisten sollen, egal ob sie etwa 1200 oder aber 5000 Euro und mehr verdienen.

Von allen Regeln befreit: Wachstumsmarkt Gesundheit

Umgehend flankiert bei diesem Plan zum radikalen Umbau des Gesundheitswesens wurde Schwarz-Gelb vom Bundesverband der Deutschen Industrie, BDI, der bereits kurz nach Abschluss des Koalitionsvertrags mit einem eigenen Positionspapier nachlegte. "Für eine starke Gesundheitswirtschaft in Deutschland - Positionen für ein innovationstreibendes, dynamisches und solidarisches Gesundheitssystem", heißt das Papier, das im Kern ebenfalls auf die Einführung der Kopfpauschale und damit die Abschaffung der paritätischen Finanzierung des Gesundheitswesens zielt. Und nicht nur das: Weil der Gesundheitsmarkt ein Wachstumsmarkt sei, müsse die Arzneimittelindustrie von "zentralistischen Eingriffen" und "bürokratischen Hürden" verschont werden, heißt es da. Ein Wachstumsmarkt, da ist sich die Industrie einig mit der schwarz-gelben Regierungskoalition, gehört von Regeln befreit, selbst wenn diese im Interesse des Gemeinwohls sind.

Mit der so genannten Gesundheitsreform, die Schwarz-Gelb Anfang November dieses Jahres beschlossen hat, ist der Ausstieg aus dem Solidarprinzip im Gesundheitswesen nun eingeleitet, die paritätische Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer wird abgeschafft. Ab Januar 2011 steigen die Beiträge zur Krankenversicherung von 14,9 auf 15,5 Prozent. Von diesen sollen 8,2 Prozent die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zahlen, der Beitrag der Arbeitgeber in Höhe von 7,3 Prozent soll ab 2011 nicht weiter steigen dürfen, sondern auf dieser Höhe eingefroren werden. Das bedeutet: Alle weiteren Kostensteigerungen sollen künftig einseitig die Versicherten tragen. Die Krankenkassen dürfen von ihren Mitgliedern Zusatzbeiträge erheben, und zwar unabhängig von der Höhe ihrer jeweiligen Einkommen. Die Kopfpauschale kommt nun also real als Zusatzbeitrag daher.

Zu den Risiken und Nebenwirkungen

Und wer über ein entsprechendes Einkommen verfügt, kann auch als gesetzlich Versicherter künftig schneller als bisher zu einem Arzttermin kommen und vielleicht auch eine komfortablere Behandlung genießen. Dazu wählt er oder sie die Vorkassen-Regelung: Die Behandlung wird teurer, der Patient erhält eine private Arztrechnung, die ihm von der Krankenkasse allerdings nur zum Teil ersetzt wird. Damit wird wiederum eine neue Klasse von Patienten kreiert.

Und was mit der so genannten Gesundheitsreform auf den Weg gebracht wurde, das plant die schwarz-gelbe Bundesregierung nun auch bei der Pflegeversicherung anzurichten: die Abkehr vom Solidarprinzip und der paritätischen Finanzierung hin zu kapitalgedeckter Privatversicherung und einseitiger Belastung der sozial Schwächeren in dieser Gesellschaft. Statt Kopfpauschale heißt das Instrument der Entsolidarisierung in diesem Falle Pflegepauschale. Die Rede ist von zehn oder gar 20 Euro, die jeder und jede künftig unabhängig von der Höhe des Einkommens in eine Pflegeversicherung zahlen soll - zusätzlich zu Praxisgebühr, Zusatzbeiträgen und übrigen Zuzahlungen. Und die Zahlung in diese Pflegeversicherung soll verpflichtend sein.

Noch wiegelt Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler, FDP, die Kritiker dieses Vorhabens ab: Es sei nichts konkret beschlossen, man sei lediglich um Lösungen für die Finanzierung der Pflegekosten bemüht. Aber die Richtung steht längst fest. Zum Thema Umbau der Pflegeversicherung ist im oben erwähnten schwarz-gelben Koalitionsvertrag zu lesen: "Wir brauchen neben dem bestehenden Umlageverfahren eine Ergänzung durch Kapitaldeckung, die verpflichtend, individualisiert und generationengerecht ausgestaltet sein muss."

Individualisiert und kapitalgedeckt - hier bahnt sich ein weiteres Mal an, was schon mit der Riester-Rente und neuerlich mit der Gesundheitsreform eingeführt wurde: die Individualisierung und Privatisierung von Gesundheits- und Altersrisiken, die Abkehr vom Solidarprinzip. Und sicher ist: Den privaten Versicherungsunternehmen bringt diese Politik beachtliche Geschäftsaussichten. Und das auf lange Sicht.