Ausgabe 01/2011-02
Die Kosten steigen zu Kopf
Wer am wenigsten verdient, soll künftig im Verhältnis am meisten bezahlen. Und spätestens ab 2012 werden die Kosten für die Gesundheit immens steigen. Gut versorgt ist dann nur noch, wer es sich leisten kann
von Karin Nungeßer
Stell dir vor, das Gesundheitssystem wird von Grund auf umgekrempelt - und keiner merkt's. In der Tat nehmen sich die Veränderungen, die am 1. Januar in Kraft getreten sind, auf den allerersten Blick eher unbedeutend aus. Der Beitragssatz zur Gesetzlichen Krankenkasse steigt um 0,3 Prozentpunkte - eine mäßige Anhebung, die zudem Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite gleichermaßen betrifft. Kassenpraxen dürfen Patient/innen künftig gegen Rechnung behandeln, ebenso die Apotheken - aber wer nicht will, muss ja nicht. Und das mit den Zusatzbeiträgen wird so schlimm schon nicht werden - bislang haben ja die wenigsten Kassen welche erhoben, und außerdem gibt es dafür doch den Sozialausgleich... Also alles halb so wild?
Das böse Erwachen
Wer so denkt, könnte spätestens im nächsten Jahr ein böses Erwachen erleben. "Auch wenn wir es 2011 noch nicht merken - die Tür zur Kopfpauschale ist durch die neuen Regelungen weit aufgemacht worden", kritisiert Herbert Weisbrod-Frey, Bereichsleiter Gesundheitspolitik beim ver.di-Bundesvorstand. Tatsächlich wurden mit dem GKV-Finanzierungsgesetz der schwarz-gelben Bundesregierung, das seit 1. Januar gilt, Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil zur Gesetzlichen Krankenversicherung eingefroren; alle künftigen Kostensteigerungen im Gesundheitswesen sollen nun über Zusatzbeiträge abgedeckt werden, die künftig nicht mehr prozentual zum Einkommen, sondern als Festbetrag erhoben werden. Das bedeutet nicht nur das Ende der paritätischen Finanzierung der Gesundheitskosten zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitergeberseite, sondern hat auch zur Folge, dass diejenigen, die am wenigsten verdienen, künftig proportional am meisten bezahlen müssen. Schon bei einer Pauschale von 16 Euro monatlich, wie sie das Bundesversicherungsamt für 2014 zugrunde legt, schlagen Arbeitnehmeranteil plus Zusatzbeitrag für Menschen mit einem monatlichen Einkommen von 800 Euro mit 10,2 Prozent zu Buche. Wer dagegen 8000 Euro verdient, zahlt dieselbe Pauschale - und insgesamt nur vier Prozent seines Einkommens an die Krankenkasse.
Doch selbst dabei wird es nicht bleiben. "Wir werden nach einhelliger Meinung vieler Wissenschaftler 2020 durchschnittliche Kopfpauschalen von mehr als 70 Euro monatlich haben", warnt Weisbrod-Frey. "Bei denjenigen, die wenig verdienen, wird die Kopfpauschale dann höher sein als der Versicherungsbeitrag, den sie bei der Krankenkasse zahlen müssen." Und der Sozialausgleich? "Starke Schultern müssen mehr tragen als schwache", verspricht die Website des Bundesgesundheitsministeriums. Doch nicht der Zusatzbeitrag, den die Kasse tatsächlich verlangt, gilt als Maßstab, sondern ein von der Bundesregierung im Voraus festgelegter Betrag. Erst wenn dieser zwei Prozent des Einkommens übersteigt, reduziert sich der Krankenkassenbeitrag entsprechend - auch wenn die eigene Kasse möglicherweise viel mehr verlangt. Ärmere Mitglieder dürften so zum Wechsel in eine Kasse gezwungen werden, die weniger Leistungen anbietet und dafür niedrigere Zusatzbeiträge verlangt.
Drei Viertel werden einen Sozialausgleich brauchen
Anders als die Bundesregierung lange Zeit suggerierte, werden die Kosten für den Sozialausgleich bis 2014 zudem nicht aus Steuermitteln bezahlt, sondern aus dem Gesundheitsfonds. "Das bedeutet, dass der Sozialausgleich aus dem paritätischen Beitragsaufkommen aufgebracht werden muss", kritisiert Weisbrod-Frey. "Damit steigt die Kopfpauschale noch schneller, denn das Geld kommt ja aus der Liquiditätsreserve, die zum nächsten Jahr wieder aufgefüllt werden muss." Bereits gegen Ende des Jahrzehnts, so schätzen Fachleute, würden drei Viertel aller gesetzlich Versicherten einen Sozialausgleich brauchen. Doch woher soll das Geld dafür kommen, wenn der Bund ab 2016 keine neuen Schulden mehr machen darf? Wenn die Einnahmen zurückgehen und die Ausgaben steigen?
Zu befürchten ist folgendes Szenario: Das allgemeine Leistungsniveau der Krankenkassen wird sinken; wer eine bessere medizinische Versorgung will, muss dafür zusätzlich zahlen. Denn auch das gehört zu den Neuerungen, die am 1. Januar in Kraft getreten sind: Kassenpatienten können sich künftig in Praxen und Apotheken bevorzugt behandeln lassen, wenn sie bereit sind, dafür erhebliche Mehrkosten in Kauf zu nehmen. Anders als der Begriff "Vorkasse" suggeriert, ersetzen die Kassen anschließend nur die regulären Kosten; die Differenz trägt der Patient. Dabei kann der Preisunterschied zwischen einem frei gewählten Medikament in der Apotheke und dem, was die Kasse als Regelleistung für das verordnete erstattet, bis zu 80 Prozent betragen. Bei ärztlichen Behandlungen auf Privatrechnung kommen so schnell mehrere hundert Euro zusammen - ganz abgesehen davon, dass längst nicht jeder über die Mittel verfügt, um mit solchen Beträgen in Vorleistung zu gehen.
Für die Gesundheit verschulden
Kritiker/innen sprechen daher mittlerweile von einer Drei-Klassen-Medizin. Da gibt es auf der einen Seite die Privatversicherten, die jeder, auch der fragwürdigsten Neuerung des medizinischen Fortschritts ungefragt teilhaftig werden - und dafür langfristig, besonders im höheren Alter, saftige Beiträge zahlen. Auf der anderen Seite stehen die normalen Kassenpatienten, die sich keine Privatrechnungen leisten können und künftig trotz hoher Zusatzbeiträge eine schlechtere medizinische Versorgung bekommen. Dazwischen werden sich all jene Versicherten bewegen, die über Zusatzpolicen verfügen und sich für einen dringenden Termin beim Facharzt gegebenenfalls verschulden. Ein Horrorszenario? Mit den zum 1. Januar in Kraft getretenen Regelungen sind wir ihm einen deutlichen Schritt näher gekommen.