Ausgabe 01/2011-02
Hasan hat nicht aufgegeben
Der entlassene und wieder eingestellte UPS-Arbeiter Hasan Dogan vor seinem Haus im Stadtteil Alibeyköy, Istanbul
von Jürgen Gottschlich
Auf den ersten Blick macht es nicht viel her. Ein ziemlich primitives, großes Zelt aus einfachen Planen. Nicht viel mehr als ein Wetterschutz, in der Mitte ein Ofen, der für angenehme Wärme sorgt. Es gibt ein paar Bänke und Stühle, aber das war es dann auch schon. Das Zelt steht am Rande von Istanbul, weit draußen vor der Stadt, an einem Autobahnkreuz mitten in dem neu entstehenden Industriegebiet Mahmutbey. Noch wissen es die Männer nicht, die an diesem Donnerstag um den Ofen herum versammelt sind, aber von diesem Zelt wird im Januar 2011 ein historischer Sieg der türkischen Gewerkschaftsbewegung ausgehen.
Einer von ihnen ist Hasan Dogan, 39 Jahre alt. Er ist ein schmaler, lang aufgeschossener Typ mit einem Bart, den er sich in den letzten Monaten hat wachsen lassen. Er humpelt ein wenig, weil er sich sein Bein gebrochen hatte und der Bruch noch nicht völlig verheilt ist. Ruhelos läuft Hasan um den Ofen, setzt sich, will etwas erzählen, springt aber gleich wieder auf und holt erst einmal einen Tee für die Besucher. "Alle hier sind heute ziemlich nervös", erklärt dann Cayan Dursun an Hasans Stelle die Situation. "Wir warten und warten. Heute Nachmittag soll die entscheidende Runde beginnen."
Tag für Tag warten
Cayan Dursun ist der Istanbuler Vorsitzende der kleinen Transportarbeitergewerkschaft Türkiye Motorlu Tasit Iscileri Sendikasi (TÜMTIS). Er ist um die 40, einer, der zupackt, der immer da ist und dem alle vertrauen. Er betreut 83 Männer, die sich seit gut acht Monaten, "genau 261 Tage jetzt", sagt Dursun, Tag für Tag in dem Zelt am Stadtrand versammeln. Die 83 sind von dem privaten, internationalen Cargo-Unternehmen UPS (United Parcel Services) gefeuert worden. Das UPS-Auslieferungslager, wo sie früher gearbeitet haben, liegt genau gegenüber der Brache, auf der ihr Zelt steht. Nur eine schmale Straße trennt sie von ihrem ehemaligen Arbeitsplatz.
TÜMTIS-Gewerkschaftsgebäude
Gürel Yilmaz, TÜMTIS-Generalsekretär
Auf der anderen Straßenseite sehen sie die Kollegen, die Pakete und Päckchen in die UPS-Wagen einladen. Es ist zehn Uhr vormittags und die erste Stoßzeit der Morgenschicht ist bereits vorbei. Es geht ziemlich geruhsam zu auf der anderen Straßenseite. Im Zelt ist die Stimmung dagegen hoch gespannt. "Es muss heute klappen", sagt Hasan Dogan, "lange halte ich nicht mehr durch."
Die entscheidende Runde, auf deren Ausgang Hasan und die anderen Männer im Zelt so dringend warten, ist das abschließende Gespräch zwischen der Führung der Gewerkschaft TÜMTIS und dem Management von UPS. Die Männer wissen, dass die Chancen gut stehen. Die Geschäftsführung von UPS hat signalisiert, dass sie bereit ist einzulenken, aber noch gibt es kein Abkommen. Ungefähr 30 Kilometer Luftlinie entfernt, in einem Hotel, sitzen sich die Delegationen gegenüber und verhandeln über die Wiedereinstellung der 83 Männer. Arbeit gibt es genug. Die Entlassungen hatten nichts mit der Wirtschaftskrise zu tun. "UPS hat uns nur gefeuert, weil wir in die Gewerkschaft eingetreten sind", sagt Cagdas Baordanace, einer der Kollegen von Hasan im Zelt.
Was sich für deutsche Ohren wie ein schlechter Witz anhört, passiert in der Türkei täglich. Immer wieder setzen Firmen Mitarbeiter mit fadenscheinigen Begründungen vor die Tür, wenn sie mitbekommen, dass sie sich gewerkschaftlich organisieren. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Gewerkschaft besonders erfolgreich dabei ist, Leute zu organisieren. Die Geschäftsführung des Unternehmens will dann verhindern, dass es der Gewerkschaft gelingt, 50 Prozent der Belegschaft zu organisieren. Denn wenn die Gewerkschaft das Quorum erreicht und darüber hinaus nachweisen kann, dass insgesamt zehn Prozent der Beschäftigten der gesamten Branche von ihr vertreten werden, wird sie offiziell als Tarifpartner anerkannt und das Unternehmen muss mit ihr verhandeln. Der einfachste Weg für die Unternehmen das zu verhindern, ist, Beschäftigte zu feuern, bevor das Quorum erreicht ist. Der größte Gewerkschaftsdachverband Türk-Is hat in den Jahren 2003 bis 2005 insgesamt 15000 Arbeiter unterstützt, denen wegen Gewerkschaftsaktivitäten gekündigt worden war. Der Kampf der Gewerkschaften gegen diese Praxis dauert nun schon zwei Jahrzehnte. Nach dem Militärputsch 1980 war Gewerkschaftsarbeit jahrelang fast gänzlich unmöglich, jetzt könnte erstmals ein großer Erfolg erzielt werden.
UPS hat an mehreren Standorten in der Türkei insgesamt 162 Mitarbeiter gefeuert, 83 davon in Istanbul. Seit gut acht Monaten demonstrieren die Gefeuerten nun schon vor den Toren von UPS, fordern ihre Wiedereinstellung und ein Ende der Behinderung der Gewerkschaftsarbeit.
Eingekesselt und verprügelt
"Wir haben die ganze Zeit, jeden Tag, immer zusammengehalten", erzählt Hasan, "jeder hat dem anderen geholfen. Wir geben nicht auf. Wir kommen jeden Tag. UPS kann das durch ihre Kameras von der anderen Straßenseite aus beobachten. Sie wissen, dass keiner von uns aufgibt." Vor allem in den ersten Monaten nach dem Rauswurf ging es in Mahmutbey turbulent zu. UPS heuerte für die gefeuerten Gewerkschafter neue Leiharbeiter an, und die Männer aus dem Zelt versuchten durch einen Sitzstreik vor dem UPS-Tor zu verhindern, dass diese aufs Gelände kamen. Daraufhin rückte die Polizei an und schlug zu. "Sie haben uns eingekesselt und verprügelt", erzählt Cayan Dursun. "Monatelang standen hier immer mehrere Busse der Spezialpolizei für Aufstandsbekämpfung." "Wir hatten aber auch viel Unterstützung", sagt Hasan. "Sogar die Fans der drei großen Istanbuler Fußballclubs haben für uns demonstriert."
Hasan Dogan war von seinem Rauswurf bei UPS besonders betroffen. Der Packer hatte sich an der Laderampe kurz zuvor sein Bein gebrochen. Durch seine Entlassung verlor er automatisch auch seine Krankenversicherung. "Die Gewerkschaft hat mir geholfen", erzählt er, "sie haben mir eine staatliche Versicherungskarte besorgt." Zu Hause hat er drei Kinder und eine Frau. Zwei Söhne, einer 17, der andere 20 Jahre alt, verloren in den letzten Monaten ebenfalls ihre Jobs. Der älteste war wie er bei UPS. Plötzlich hatte die ganze Familie nicht mehr viel mehr als die 500 Lira (das sind rund 250 Euro), die die Gewerkschaft ihnen als "Streikgeld" im Monat zahlte.
Die türkische UPS-Zentrale im Istanbuler Stadtteil Zeytinburnu
Trotzdem bereut er nicht, sich auf den Arbeitskampf eingelassen zu haben. "Die Bedingungen bei UPS sind sehr schlecht. Wir bekommen 600 Lira im Monat und arbeiten dafür sechs Tage lang mindestens zehn Stunden am Tag. Auch während der Feiertage zum Opferfest. Wer sich beschwert, bekommt die Tür gezeigt. Es gibt genug Leute, die bei UPS anfangen wollen. Nur mit der Gewerkschaft haben wir die Chance, unsere Bedingungen zu verbessern."
Als die Männer sich am frühen Abend auf den Heimweg machen, wird noch verhandelt. Auch am Freitagmorgen muss Cayan Dursun sie enttäuschen. "Wir sind noch nicht durch, erzählt er am Telefon. Die Verhandlungen sind auf Sonntag vertagt."
Der Durchbruch
Am Montagmorgen ist das Abkommen immer noch nicht unterschrieben. "Es sieht aber gut aus", lässt Gürel Yilmaz, der Generalsekretär von TÜMTIS, den Männern im Zelt ausrichten. Der Durchbruch kommt dann in der Nacht von Montag auf Dienstag. UPS unterschreibt eine Vereinbarung die vorsieht, dass 151 der gefeuerten Gewerkschafter wieder eingestellt werden und darüber hinaus rückwirkend Geld für vier Monate bekommen. Ein Riesenerfolg. Die elf Männer, die draußen bleiben müssen, gehören zu den aktivsten Gewerkschaftern. Die Gewerkschaft wird ihnen helfen, einen neuen Job zu finden. Das UPS-Management behauptet, das Verhältnis zu diesen Leuten sei so zerrüttet, dass eine Weiterbeschäftigung nicht zumutbar sei. Sie sollen 12 Monatslöhne als Abfindung bekommen. Außerdem sichert UPS zu, die Gewerkschaftsarbeit im Betrieb zukünftig nicht mehr zu behindern.
Cayan Dursun, Gewerkschafter von TÜMTIS vor dem Zelt der Streikenden
Als TÜMTIS-Generalsekretär Gürel Yilmaz einige Tage später Zeit für ein Gespräch hat, ist er immer noch völlig erschlagen vom Stress der vorangegangenen Wochen. Außerdem bleibt er vorsichtig. Von einem Sieg will er noch nicht sprechen. Noch haben die Arbeiter nicht wieder bei UPS angefangen. Trotzdem ist er natürlich stolz auf das Erreichte.
Auf die Frage, warum ausgerechnet der kleinen TÜMTIS gelungen ist, was andere, größere Gewerkschaften nicht erreichen konnten, muss Gürel Yilmaz nicht lange überlegen. "Wir hatten eine fantastische internationale Solidarität. Insbesondere die Internationale Transportarbeitergewerkschaft ITF mit Sitz in London hat uns sehr unterstützt." Und zwar nicht wie sonst oft nur mit warmen Worten. "Sie haben nicht nur ein Protestfax geschickt und eine Solidaritätserklärung verabschiedet. Nein, die ITF hat am 15. September letzten Jahres in 40 Städten weltweit Unterstützungsdemonstrationen vor den dortigen UPS-Niederlassungen organisiert. Aus vielen Ländern sind Delegationen angereist, um die Arbeiter hier zu unterstützen und ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Viele waren auch aus Deutschland da. Am Ende hat UPS vor dieser großen Solidarität kapituliert. Sie hatten Angst vor einem Imageverlust. Die Konzernmutter in den USA wollte den Konflikt vom Tisch haben."
Die Unterstützung von TÜMTIS durch die Internationale Transportarbeitergewerkschaft geht bereits auf das Jahr 2007 zurück. Schon damals protestierten TÜMTIS-Gewerkschafter aus dem gleichen Grund vor einem Unternehmen in Ankara wie heute vor UPS. Leute waren entlassen worden, weil sie in die Gewerkschaft eingetreten waren. Damals riefen die Bosse die Polizei, 17 Protestierende wurden ins Gefängnis gesteckt. Zu dem anschließenden Prozess schickte die ITF einen Beobachter - Vertreter von ver.di waren auch vor Ort - und seitdem wurde der Kontakt zwischen TÜMTIS und dem Dachverband in London immer enger. "Die ITF hat uns im Konflikt mit UPS von Anfang an beraten und unterstützt", erzählt Gürel Yilmaz. "Wir sind ein gutes Beispiel dafür, dass internationale Solidarität funktioniert, gerade unter so schwierigen Bedingungen, wie wir sie in der Türkei haben."
Die Streikenden harren genau 272 Tage, über acht Monate, aus
Abwarten im Zelt: Noch steht das Verhandlungsergebnis aus
Während Gürel Yilmaz sich in den Tagen nach dem Vertragsabschluss mit UPS jeden Triumph verkneift - er vergisst auch nicht, darauf hinzuweisen, dass die Gewerkschaft ja nun erst einmal das 50-Prozent-Quorum erreichen muss, damit sie auch tariffähig werden - ist Hasan Dogan rundherum glücklich. Er hat am Wochenende nach dem Durchbruch seinen Gewerkschaftssekretär Cayan Dursun und den deutschen Journalisten zu sich nach Hause zum Tee eingeladen.
Grund zum Feiern
Hasan Dogan und seine Familie gehören zu den Millionen Menschen in der Metropole am Bosporus, die hart arbeiten und trotzdem kaum genug zum Überleben haben. Die Familie wohnt in einem Gecekondu, das sind die über Nacht gebauten Häuschen, die Leute vom Land auf Staatsland errichtet haben, nachdem sie, zumeist völlig mittellos, in der Großstadt anlandeten. Hasan und seine Familie kamen in den 80ern aus einem Dorf bei Erzurum, ganz im Osten des Landes. In seinem Viertel, Alibeyköy, gibt es viele Leute aus Erzurum und viele von ihnen arbeiten bei UPS. Hasans Häuschen gehört seinem Onkel, er muss dafür 200 Lira Miete im Monat zahlen. Es liegt an einem steilen Hang und ist nur über einen Fußpfad zu erreichen. Alibeyköy ist die Schattenseite der Boomtown Istanbul, in der ständig neue Bürotürme hochgezogen werden und die Wirtschaft im letzten Jahr um acht Prozent gewachsen ist. Doch bei Leuten wie Hasan kommt davon nichts an. "Das Wirtschaftswachstum der letzten Jahre", sagt Gürel Yilmaz, "hat die Armen im Land nicht erreicht. Die Arbeitslosigkeit ist nicht geringer geworden und die, die Arbeit haben, werden rücksichtslos ausgebeutet."
Hasan Dogans Frau Gülsen mit ihrem jüngsten Sohn Ulas Dogan (12)
Hasan und seine Frau Gülsen sind total erleichtert, dass es der Gewerkschaft trotz der schlechten Gesamtlage tatsächlich gelungen ist, die Wiedereinstellung der Arbeiter durchzusetzen. "Ich habe meinen Mann immer unterstützt", sagt Gülsen, "aber je länger es dauerte, desto pessimistischer wurde ich. An manchen Tagen hatten wir nicht einmal genug zu essen." Jetzt ist sie aber von der Gewerkschaft völlig überzeugt. "Wir haben volles Vertrauen zu TÜMTIS." Stolz zeigt sie auf eine Fotosammlung an der Wand, die Hasan und seine Kumpels vor den Toren von UPS zeigt. Sie selbst arbeitet in einer Putz- kolonne auf Tagesbasis, also nur an den Tagen, an denen sie gerufen wird. In der Regel säubert ihre Kolonne das Fußballstadion von Besiktas. Dafür bekommt sie 13 Euro am Tag. An diesem Wochenende sind aber erst einmal alle Ängste und Zukunftssorgen weggewischt. Wie um das Glück komplett zu machen, hat einer der beiden Söhne auch gerade wieder einen neuen Job gefunden, damit scheint die Familie über den Berg. Hasan hat auch die Nase voll davon, im Zelt oder zu Hause herumzusitzen, er freut sich wieder auf die Arbeit. Für den kommenden Abend, dem letzten Tag im Januar, hat die Gewerkschaft für alle Arbeiter aus dem Zelt und deren Familien ein Fest organisiert.
"Wir haben wirklich etwas zu feiern", meint Hasan. "Wenn wir wieder anfangen zu arbeiten, ist das ein historischer Erfolg. Nirgendwo sonst in der Türkei hat ein Unternehmen die Gewerkschafter wieder aufnehmen müssen, die es zuvor gefeuert hat."
Zwei Tage später, am Dienstag, dem 1. Februar, wird der historische Erfolg Wirklichkeit. Hasan Dogan und mit ihm die meisten anderen aus dem Zelt gehen nach 272 Protesttagen wieder zur Arbeit.