Mongi Amami von der tunesischen Gewerkschaft UGTT berichtet über die Beteiligung der Organisation an den Protesten und Veränderungen in Tunesien

Tunis am 21. Januar 2011. Eine Frau trägt bei den Protesten vor einem Regierungsgebäude eine tunesische Flagge

ver.di PUBLIK | Die tunesische Gewerkschaft UGTT war maßgeblich an den Protesten beteiligt, die zum Sturz von Präsident Ben Ali führten, nachdem er 23 Jahre an der Macht war. Wie kam es dazu?

Mongi Amami | Es begann mit den Protesten in Zentraltunesien, der ärmsten Region des Landes. Die Lebensbedingungen dort waren einfach unerträglich. Die Arbeitslosigkeit ist die höchste im Land, die Analphabetenquote übertrifft die aller anderen Regionen, die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft sind sehr schlecht. Die Gewerkschafter vor Ort waren sich dessen bewusst. Als die Proteste begannen, waren sie deshalb sofort mit dabei. Und als sich die Revolte langsam, aber sicher ausweitete, nahmen auch in anderen Städten und Regionen Gewerkschafter teil. Die Gremien solidarisierten sich dann nach und nach ebenfalls mit der Bewegung.

Analysiert die Situation in seinem Land: Gewerkschafter aus Tunesien

Mongi Amami

Mongi Amami (59) ist Vorsitzender der Abteilung für Studien und Dokumentation im Vorstand der tunesischen Gewerkschaft Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT). Er kommt aus der Chemieindustrie. Als linker Oppositioneller saß er in den 70er Jahren zwei Jahre im Gefängnis. Amami stammt aus Sidi Bouzid; von dort gingen Mitte Dezember 2010 die Proteste aus, die am 14. Januar zum Sturz des tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali führten.

Im Sommer 2010 hat Mongi Amami eine Studie über die explosive soziale Lage im ärmsten Teil des nordafrikanischen Landes verfasst.

ver.di PUBLIK | Eine ungewöhnliche Entwicklung, denn die UGTT stand in der Vergangenheit nicht immer in der Opposition. Sie wurde vielmehr oft von der Regierungspartei RCD dominiert.

Amami | Das stimmt, die Gewerkschaft war immer hin- und hergerissen zwischen Macht und Gegenmacht. Die Organisation entstand 1946, zehn Jahre bevor Tunesien von Frankreich unabhängig wurde. Sie spielte eine wichtige Rolle im Kampf um die Unabhängigkeit - wir sind also eine eigenständige Bewegung mit einer Geschichte. Dennoch war die UGTT intern immer von zwei Tendenzen und zwei Gruppen von Aktiven geprägt: Von denen, die sich in der Opposition zum Regime sahen, und denen, die Regierung und Staat unterstützt haben. Doch rückblickend können wir sagen, dass die UGTT sich in wichtigen Momenten unserer Geschichte immer für die Opposition und für den Wandel entschieden hat. Wir haben Generalstreiks durchgeführt und waren zum Beispiel bei den Aufständen gegen die dramatischen Brotpreiserhöhungen in den 80er Jahren mit dabei. Die UGTT war all die Jahre über ein Auffangbecken für Oppositionelle. Sie war der einzige Ort, an dem die Oppositionellen sich betätigen konnten.

ver.di PUBLIK | Auch nach dem Sturz Ben Alis unterstützte die UGTT die Forderungen nach einer "sauberen Übergangsregierung". Nun hat Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi alle belasteten Minister entlassen. Nur er bleibt noch als Vertreter des alten Regimes übrig. Können Sie damit leben?

Amami | Die Regierung besteht jetzt aus unabhängigen Ministern und Technokraten, die einen guten Ruf auf ihren Fachgebieten haben. Ich glaube, dass das eine gute Regierung ist - für den Übergang. Sie hat eine wichtige Aufgabe: Sie muss Kommissionen einrichten, um die politischen Reformen vorzubereiten, die das Land in die Demokratie führen werden. Außerdem müssen die Korruption und die Polizeigewalt gegen die Proteste, die zum Sturz von Präsident Ben Ali geführt haben, untersucht werden. Wir unterstützen die Regierung bei dieser Arbeit. Allerdings stellen wir die Bedingung, dass in den entsprechenden Kommissionen Gewerkschaft, Opposition und Vertreter der Zivilgesellschaft vertreten sind.

ver.di PUBLIK | Nach dem Sturz von Ben Ali wurden namhaften Mitgliedern der UGTT drei Ministerposten angeboten. Warum hat die Gewerkschaft diese Ämter nicht angenommen?

Amami | Unsere Gewerkschaft ist aus vielen unterschiedlichen Strömungen zusammengesetzt. Das hat dazu geführt, dass die Gremien in der Gewerkschaft beschlossen haben, unsere Unabhängigkeit zu wahren, als Kontrollinstanz zu funktionieren und nicht direkt mitzuregieren. Allerdings werden wir in den Kommissionen unsere politischen, wirtschaftlichen und sozialen Forderungen einbringen. Außerdem wollen wir eine Plattform ins Leben rufen, die den Übergangsprozess kritisch begleiten wird. Dazu laden wir Vertreter der Oppositionsparteien und der Zivilgesellschaft ein.

"Die alte Regierungspartei muss aufgelöst werden. Was ihre Mitglieder sich unrechtmäßig angeeignet haben, muss der öffentlichen Hand zugeführt werden."

ver.di PUBLIK | Was sind die wichtigsten Aufgaben, vor denen Tunesien jetzt steht?

Amami | Die Wirtschaft muss wieder angekurbelt werden. Es ist wichtig, dass die Menschen wieder zur Arbeit gehen, dass Normalität einkehrt. Dann müssen wir die Verfassung so verändern, dass wir wirklich freie Wahlen haben und sich das Land demokratisch öffnet. Die alte Regierungspartei RCD muss aufgelöst werden. Was ihre Mitglieder sich unrechtmäßig angeeignet haben, muss der öffentlichen Hand zugeführt werden. Das gleiche gilt für die Unternehmen des Clans um den Präsidenten Ben Ali und seine Frau Leila Trabelsi.

ver.di PUBLIK | Werden sich die Proteste fortsetzen?

Amami | Es gibt sicher Menschen, die noch weiter auf die Straße gehen werden. Wir werden versuchen, in engem Kontakt mit ihnen zu bleiben und ihre Forderungen in unsere Arbeit aufzunehmen.

ver.di PUBLIK | Die UGTT will sich also irgendwo zwischen der Straße mit ihren Protesten und der Verantwortung für den Übergang ansiedeln?

Amami | Das trifft es sehr gut.

Interview: Reiner Wandler

Mongi Amami

Mongi Amami (59) ist Vorsitzender der Abteilung für Studien und Dokumentation im Vorstand der tunesischen Gewerkschaft Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT). Er kommt aus der Chemieindustrie. Als linker Oppositioneller saß er in den 70er Jahren zwei Jahre im Gefängnis. Amami stammt aus Sidi Bouzid; von dort gingen Mitte Dezember 2010 die Proteste aus, die am 14. Januar zum Sturz des tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali führten.

Im Sommer 2010 hat Mongi Amami eine Studie über die explosive soziale Lage im ärmsten Teil des nordafrikanischen Landes verfasst.

"Die alte Regierungspartei muss aufgelöst werden. Was ihre Mitglieder sich unrechtmäßig angeeignet haben, muss der öffentlichen Hand zugeführt werden."