Ausgabe 03/2011
2 Euro haben oder nicht
Maria Müller und Christel Löwenhagen sind zwei von Millionen Rentnerinnen, die von ihrer Rente nicht leben können. Mit ihrem Hinzuverdienst kommen sie gerade so über den Monat - nur, wie lange noch?
Das Glück im Namen hat nichts genützt: Das Restaurant im Wohnkomplex 1 in Hoyerswerda musste schließen
von Petra Welzel
Immer geht es nur ums Sparen. Posten für Posten listet Maria Müller ihre Einkünfte und Ausgaben auf, markert jeden einzelnen Betrag noch einmal mit einem dicken gelben Stift, damit sie auch ja keinen vergisst. Am Ende hat sie die 60 Euro Jahresbeitrag für den Sportverein vergessen. Einmal in der Woche, jeden Montag, geht Maria Müller zum Sport. Das leistet sie sich. Besser gesagt, noch kann sie sich das leisten. Würde sie nicht seit gut zweieinhalb Jahren in einer Zahnarztpraxis dreimal die Woche für 330 Euro im Monat putzen, blieben Maria Müller, 62 Jahre, nach allen Abzügen von ihrer Rente nur 370 Euro zum Leben. Das ist ein bisschen mehr als Arbeitslose mit Hartz-IV-Bezug erhalten.
Maria Müller weiß genau, was Hartz-IV-Empfänger bekommen. Nicht nur, weil gerade wochenlang in der Politik über fünf, acht oder elf Euro mehr im Hartz-IV-Regelsatz diskutiert wurde, sondern weil ihr jüngster von vier Söhnen Hartz-IV beziehen muss. Bis heute leiht sie ihm ab und an Geld, das er nicht immer zurückzahlen kann. Bis heute kauft sie ihm einen Pullover, wenn er einen nötig hat. Diese Ausgaben tauchen in ihrer Liste nicht auf, die sie an diesem Tag macht. Ganz nüchtern betrachtet sie den Zettel vor sich auf dem Tisch durch die fein gerahmte Brille. Es sind Ausgaben, die sie sich eigentlich nicht leisten kann.
Insgesamt verfügt Maria Müller zurzeit über 1123 Euro im Monat. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts zählt sie damit zu den 62,8 Prozent Rentnerinnen und Rentnern in Deutschland, die weniger als 1300 Euro zur Verfügung haben und so auch unter dem derzeit von den Gewerkschaften geforderten Mindestlohn von 1360 Euro liegen. Die Mindestrente dürfte nicht niedriger sein. 62,8 Prozent, das sind über 13 Millionen Menschen, von denen die allermeisten wie Maria Müller ein Leben lang gearbeitet haben und jetzt jeden Cent zählen, wenn es ums Ausgeben geht. Von den 60- bis 65-Jährigen unter diesen 13 Millionen Menschen gehen 41,5 Prozent einer Erwerbstätigkeit nach, unter den Frauen sind es 32,8 Prozent, 20 Prozent mehr als noch im Jahr 2000. Und das sagen die Zahlen noch: 3,75 Millionen dieser Frauen haben an ihrem Lebensabend weniger als 700 Euro zur Verfügung, nahezu zwei Millionen von ihnen unter 500 Euro.
Viermal fünf Euro für Augentropfen
Maria Müllers Insel: 300 Quadratmeter Garten
Dagegen erscheint die Summe, die Maria Müller zur Verfügung steht, fast schon üppig. Aber die Frage ist eher, wie überleben die anderen Frauen, wenn man Maria Müllers Rechnung aufmacht: Von ihren 1123 Euro bezahlt sie die Miete, Strom, Telefon, Kabelanschluss, Krankenkasse, Hausrats-, Haftpflicht- und Rechtsschutzversicherung, viermal im Jahr Praxisgebühr, weil sie viermal im Jahr ihren Augendruck messen lassen muss. Die viermal fünf Euro im Jahr für die Augentropfen, die sie benötigt, muss sie ebenfalls selbst bezahlen. Sollte sie eines Tages nicht mehr arbeiten können, werden ihr nur 793 Euro verbleiben. Wie bezahlt sie dann alle Rechnungen?
Christel Löwenhagen, 60 Jahre und seit fünf Jahren in Rente, bleiben zum Leben, wenn alle Rechnungen beglichen sind, 250 Euro, was aktuell dem Satz für Hartz-IV-Kinder entspricht. Christel Löwenhagen sitzt neben Maria Müller im Büro von ver.di im sächsischen Hoyerswerda. Friedrun Arendt, die für ver.di in Ostsachsen die Seniorinnen und Senioren ehrenamtlich betreut, hat sie eingeladen. Maria Müller ist vor einiger Zeit aus ver.di ausgetreten, weil sie sich den Mitgliedsbeitrag nicht mehr leisten kann. Christel Löwenhagen hat ihre Austrittserklärung schon geschrieben, aber noch nicht abgegeben. Auch in ihrem Fall zählt jeder Cent.
Aber wenn es knapp wird, muss man enger zusammenrücken. Selbst die Gewerkschaft muss sich hier in Hoyerswerda das Büro mit dem DGB und drei Partnergewerkschaften teilen, um zu sparen. Von zuhause hat Friedrun Arendt Kaffeepulver und Kekse mitgebracht. Sie setzt den Kaffee mit der Maschine auf und verteilt die Kekse, drei Sorten, auf zwei Tellern mit blumengemusterten Servietten. Die drei Frauen kennen sich noch von der Post, der Arbeitgeberin, für die sie jahrzehntelang gearbeitet haben und die sie dann mit 18 Prozent Abzug in die Frührente geschickt hat. "Wenn wir nicht gegangen wären, hätten sie unsere Stunden gedrückt und dann hätten wir noch weniger Rente gehabt", sagt Maria Müller. Vor allem hatte sie immer gedacht, mit 65 würde sie schließlich die volle Rente bekommen. "Dass die 18 Prozent das ganze Leben gelten, keiner hat das gewusst", sagt sie. Christel Löwenhagen nickt zustimmend. Friedrun Arendt wusste es, als sie vor zehn Jahren mit 56 in die Frührente ging. Ihr Glück ist, dass sie noch verheiratet ist und auch ihr Mann eine Rente bezieht. Maria Müller und Christel Löwenhagen sind geschieden. Bei Maria Müller wurde kein Versorgungsausgleich gemacht, Christel Löwenhagen müsste ihrem Mann noch 49 Euro zahlen. "Das geht gar nicht", sagt sie aufgeregt. Auch jetzt nicht. Denn auch sie verdient sich durch einen Putzjob in einem Arzthaushalt 120 Euro im Monat dazu.
Christel Löwenhagen und ihr letzter Luxus: ein Kleinwagen
Mehr Arbeit gibt es nicht
Maria Müller kann nur kurz auflachen, wenn sie über das Angebot nachdenkt, dass die FDP derzeit den Frührentnern macht. Abgabenfrei sollen sie bis zur Höhe ihres letzten Bruttogehalts dazuverdienen dürfen, damit sie im Alter nicht verarmen müssen. Es ist noch keine Stunde her, dass sie Christel Löwenhagen draußen vor der Tür getroffen hat. Zufällig sind beide gleichzeitig bei klarem Sonnenschein und eisiger Kälte auf ihren Fahrrädern vor dem ver.di-Büro angekommen. Und noch vor der Tür waren die wesentlichen Details über Leben und Arbeit schon ausgetauscht.
Maria Müller lebt seit Ende der 60er in Hoyerswerda. Damals kamen alle hierher wegen der Arbeit. Am Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Hoyerswerda 7000 Einwohner, die in der heute noch gut erhaltenen Altstadt mit Schloss, Burggraben und drei Kirchen lebten. Zehn Jahre später wurde mit dem Aufbau des Kombinats Schwarze Pumpe begonnen, dem größten Braunkohletagebau des Landes und der Hauptgaslieferant für die gesamte DDR. Bis zu 320 Millionen Tonnen Kohle förderte sie jährlich. Dafür brauchte man Arbeitskräfte. 1957 wurde mit dem Bau der Neustadt begonnen. Als Maria Müller wegen der Arbeit 1969 mit ihrem Mann nach Hoyerswerda zog, lebten dort bereits über 50000 Menschen. 1981 wurde der Höchststand mit fast 72000 Einwohnern erreicht. In drei Jahrzehnten waren für sie zehn Wohnkomplexe aus der Lausitzer Erde hochgezogen worden, die seit der Wende 1989/90 wieder zurückgebaut werden. Die Schwarze Pumpe hat der Energiekonzern Vattenfall übernommen. Gut 3000 Menschen haben dort heute noch Arbeit. Rund 40000 haben Hoyerswerda verlassen, weil sie keine Arbeit mehr hatten. Und es gibt auch keine mehr.
Was vom Tagebau geblieben ist: eine riesige Seenlandschaft
"Dass ich eines Tages mal putzen gehen müsste...", hebt Maria Müller an und bricht ihren Satz dann ab. Sie erzählt lieber, was sie alles gemacht hat. Ganz früher einmal war sie Mannschaftssteward auf einem Hochseeschiff, nach ihrer Heirat und dem Umzug von Rostock nach Hoyerswerda arbeitete sie zunächst als Rettungsschwimmerin im Schwimmbad. Als sie mit vier Kindern nicht mehr in Schichten arbeiten konnte, wechselte sie zum Deutschen Roten Kreuz und schließlich zur Post. Aber so wie Hoyerswerda geschrumpft ist, so hat sich auch die Post verkleinert. Es gab immer weniger Post zuzustellen, die Touren wurden größer, Zug um Zug wurde Personal abgebaut. Ihr und den beiden anderen Frauen blieb nur die Frührente oder die Arbeitslosigkeit. Dass unterm Strich nahezu das Gleiche rauskommen würde - sie haben es einfach nicht geahnt. Und dass sie heute ihre Pakete nicht mehr mit der Post, für die sie so lange gearbeitet hat, sondern dem Hermes-Versand verschicken muss, weil das zwei Euro weniger kostet - "zwei Euro haben oder nicht", sagt sie nur.
Dreimal in der Woche radelt Maria Müller gut fünf Kilometer bis nach Zeißig, einem eingemeindeten Dorf, zum Putzen. Als diesen Winter der Schnee kniehoch lag, stieg sie auf den Bus um. Nicht auf den Stadtbus, sondern auf den Linienbus nach Bautzen, weil der 70 Cent billiger ist. Sie ist immer nur hin gefahren, zurück dann gelaufen, um 1,30 Euro zu sparen. Der einzige Schmuck, den sie trägt, ist eine Goldkette mit einem kleinen Elefantenanhänger, ein Glücksbringer.
Ein Kleinwagen, der letzte Luxus
Christel Löwenhagen hat noch einen Kleinwagen, auch wenn sie die fünf Kilometer zu ihrem Arbeitsplatz mit dem Fahrrad fährt. Stolz zeigt sie den beiden anderen Frauen ihr Auto auf dem Weg durch die Stadt. Es steht direkt vor dem Haus in der Stadtmitte, in dem sie wohnt. Am Rückspiegel hängt ein kleiner Eifelturm, ihr Talisman aus einer Zeit, als eine Kurzreise nach Paris noch drin war. Heute leistet sie sich eine Autofahrt nur, um ihre über 80-jährigen Eltern zu Arztbesuchen zu bringen oder um die Tochter zu besuchen. Von ihren vier Kindern hat nur eine Tochter Arbeit, eine andere Tochter ist seit dem ersten Lebensjahr Spastikerin, die beiden anderen sind arbeitslos. Für ihre behinderte Tochter, die seit ein paar Jahren in einer betreuten Wohngruppe lebt, muss Christel Löwenhagen monatlich einen Beitrag von 46 Euro zahlen. Zum Tanken fährt sie manchmal ins nahe gelegene Polen. Dann schaut sie dort auch nach preiswerter Kleidung. Die Qualität ist zwar nicht gut, aber die Sachen sind billig. Maria Müller schaut an ihrer lila Jacke, passend zum lila gefärbten Bürstenhaarschnitt, hinunter. "Ich vergleiche immer die Postwurfsendungen", sagt sie. Als sie diesen Winter eine neue Jacke brauchte, fand sie dort eine für 20 Euro. Gleich früh morgens zur Öffnungszeit ging sie zum Geschäft und bekam gerade noch die letzte in ihrer Größe.
"Ich weiß nicht, wo ich noch sparen soll", sagt Christel Löwenhagen. Wie Maria Müller ist sie eine Frau, die mit kräftigen Beinen im Leben steht. Beide entsprechen ganz und gar nicht dem Bild, das man sich von Frührentnerinnen macht, die ihrer Arbeit nicht mehr gewachsen sind, gar körperlich Schaden genommen haben. Christel Löwenhagen hat seit 1970 bei der Post in Hoyerswerda als Heizerin gearbeitet, war die Hausmeisterin, die jahrein, jahraus 18 Feuerstellen mit Kohlen befeuerte, damit es in den Poststellen warm war, wenn dort die Arbeit begann. Die ersten Jahre machte sie das noch allein, dann half ihr ein Rentner, nach dessen Tod ihr Schwiegervater, bis dann ihr Mann eingestellt wurde. "Wenn's kalt war, sind wir um Mitternacht los und haben eingeheizt. Um fünf Uhr waren wir dann wieder zuhause und haben die Kinder für die Schule fertig gemacht. Wenn die um sieben Uhr aus dem Haus waren, fuhren wir dorthin, wo wir gebraucht wurden", erzählt Christel Löwenhagen mit einer Begeisterung, als hätte das gestern alles erst geendet. "Sauwohl" hat sie sich bei der Post gefühlt, auch noch, als nach der Wende ihre Ehe zerbrach, sie ihre behindertengerechte Wohnung aufgeben, den Führerschein machen und in die Zustellung wechseln musste. Auch deshalb kann sie ihr Auto nicht aufgeben. "Diese Fahrerlaubnis habe ich mir so erkämpft und dieses Auto ganz allein gekauft, das ist mein kleiner Luxus", sagt Christel Löwenhagen. 100 Euro könnte sie sparen, so hoch ist die monatliche Abzahlungsrate. Aber dann müsste sie ihre Eltern mit dem Taxi zum Arzt bringen, was sie nicht billiger kommen würde.
Jetzt steht ihr kleiner Wagen meist mitten in der Neustadt vor einem der wenigen verbliebenen Hochhäuser, in dem sie ganz oben im 12. Geschoss wohnt. Trotz der Kälte hat sie alle Fenster angekippt. Sie hat sich an niedrige Temperaturen gewöhnt, seit sie auch beim Heizen spart. Und "heute scheint doch überall die Sonne rein", entgegnet sie Maria Müller, die sich kurz vor Kälte schüttelt. Sie wohnt nur ein paar hundert Meter weiter im "WK 3", im Wohnkomplex Drei, der in den 50ern gebaut wurde. Heute wird es das "weiße Rentnerviertel" genannt, weil fast nur noch Alte hier wohnen. Die Jungen ziehen weg. Solange sie noch in Hoyerswerda leben, teilen sie sich mit den Alten das Lausitz Center, die Shopping Mall im Neustadtzentrum, genau dort, wo Christel Löwenhagen wohnt. Es gibt fast ausschließlich Billigketten aus dem Einzelhandel, Karstadt hat schon vor Jahren sein Kaufhaus geschlossen und nur noch einen Schnäppchenmarkt geöffnet. Für Maria Müller und Christel Löwenhagen ist es immer noch zu teuer dort.
Ein Garten im Internet
Zuletzt machen sich die drei Frauen noch auf den Weg in Maria Müllers neuen Garten. Die Pacht für den 300 Quadratmeter großen Garten, den sie sich mit einer Freundin teilt, bezahlt sie noch von ihrem Hinzuverdienst. Ihren alten Garten musste sie aufgeben, sich um den Abriß der Laube und die komplette Entsorgung selbst kümmern. Bezahlt war da noch nicht die Nutzbarmachung des neuen Grundstücks, nicht die Reparaturen an der Laube, nicht der Umzug. "Jede Schraube kostet ein paar Cent", sagt Maria Müller. Auch ein Posten, der in ihrer Liste fehlt.
Zeit zum Ausruhen: im Lausitz Center
Christel Löwenhagen musste ihren Garten ganz aufgeben. Sie hat sich jetzt einen im Internet angelegt, mit Tieren, Obstbäumen und Feldern. Während Maria Müller am Wochenende und auch mal an den freien Tagen mit ihrer Freundin und einem befreundeten Ehepaar Ausflüge in die nahe Umgebung zu den Seen macht, den gefluteten Halden vom Braunkohletagebau, sitzt sie allein zuhause vor dem Computer und bestellt ihren virtuellen Garten, oft stundenlang. "Ich gammle sonst nur vor mich hin", sagt Christel Löwenhagen und blickt auf die Uhr. Bald muss sie wieder zuhause sein, Kohl ernten.
Zurück in der Stadtmitte, sitzen im "Café Dreißig" gegenüber dem Lausitz Center zwei Rentnerinnen bei einem Glas Rotwein, blättern Urlaubskataloge durch und planen ihre nächste Reise. Maria Müller wird dieses Jahr für ein paar Tage Urlaub bei ihrem Bruder in Waren an der Müritz machen. Christel Löwenhagen wird nirgendwo hinreisen. Sie sagt zu Maria Müller: "Im Vergleich zu dir ist mein Leben echt armselig." Aber auch Maria Müller hat sich ihren Lebensabend anders vorgestellt: "Ich dachte, ich könnte das Leben genießen, mal hier und da hinfahren, und müsste nicht noch meinem Sohn Pullover kaufen."