Die Geschichten der Kleider

Glanz und Grauen | Das Fell vom sibirischen Eichhörnchen ist weich und ganz zart. Wenn man nur mit der Hand darüber streicht, wird einem allein davon ganz warm. Man muss die Hände gar nicht mehr in den Muff stecken, dessen vordere Seite mit Streifen von Eichhörnchen-Fell bezogen ist, und der in einer Vitrine im Industriemuseum Ratingen liegt. Es kann einem aber eiskalt den Rücken runterlaufen, wenn die Geschichte hinterm Muff erzählt wird. Deutschland befindet sich in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts mitten im Krieg mit der ganzen Welt. Daheim produziert die Textilindustrie nur noch Wehrmachtsuniformen und was die Mannen und Frauen des Reichsführers Hitler benötigen. Die Bevölkerung, unter den Nazis „Volksgemeinschaft“ genannt, wird mit der Beute aus den besetzten Ländern und der enteigneten Kleidung der deutschen Juden versorgt. Das Fell von sibirischen Eichhörnchen gehört dazu. Eine Deutsche hat damit ihren Muff für kalte Tage aufgehübscht, der ansonsten aus einer Gardine genäht wurde.

„Glanz und Grauen“ nennt das Industriemuseum Ratingen seine neue Sonderausstellung – der Titel hätte nicht passender gewählt werden können. Pelz in jeglicher Variation ist das Merkmal, das sich durch die Frauen-Mode der 30er und 40er Jahre in Deutschland zieht. Selbst noch 1945, als die deutsche Bevölkerung längst begonnen hatte, alte Gardinen, Tischdecken und ähnliches in tragbare Kleidung zu verwandeln, durfte oft ein kleines Stück Pelz als augenfälliges Element nicht fehlen. Woher die Felle kamen? Es spielte offenbar keine Rolle. In der Ratinger Ausstellung kann man anschaulich und leider auch mit Erschrecken verfolgen, wie sich braunes Gedankengut auch in der Alltagskleidung niederschlug. Beginnend beim Wandel der Kleidermode durch die Weltwirtschaftskrise über den Dresscode der Hitler-Jugend und des Bunds Deutscher Mädchen bis zur Beutemode aus Mangel, erhält man hier zum ersten Mal mehr als eine Ahnung, welche Geschichten Kleider erzählen. Wirken die Modeskizzen von Ilse Naumann auf den ersten Blick völlig unverfänglich, erscheinen sie im zeitlichen Kontext in einem ganz anderen Licht: Vereinnahmt von den Nazis, werden sie in realen Filmroben der rechten Ideologie unterworfen.Es ist ein großes Verdienst dieser Ausstellung, diese Zusammenhänge erstmals aufzudecken. Wahre Schätze haben die Macher/innen gehoben. Stoffe und Garderoben eines Händlers, die 40 Jahre lang eingemauert waren. Oder die Hinterlassenschaft einer Schneiderin, die die gesamte, von ihr genähte Kleidung für ihre Familie aufbewahrt hatte. Die Forschung hatte sich bisher nicht für diese Alltagskultur interessiert, es ist gut, dass sie es jetzt tut. Petra WelzelLVR-INDUSTRIEMUSEUM RATINGEN, CROMFORDER ALLEE 24, BIS 27. JANUAR 2013, DI–FR 10–17 UHR, SA/SO 11–18 UHR