Maike Rosa Vogel: Fünf Minuten | Das Private, man darf sich erinnern, war schon früher einmal politisch. Aber niemals zuvor so radikal wie bei Maike Rosa Vogel. Wenn die Berlinerin singt, dann lässt sie nichts aus. Keine Emotion, keinen Schmerz, keinen Abgrund. Man darf sie Liedermacherin nennen. Aber eigentlich ist es umgekehrt: Die Lieder brechen aus ihr heraus, als ob die Wahrheit ans Licht drängt. Das tut weh. Beim Singen. Aber auch beim Zuhören. Immer wieder. Auch auf ihrem neuen Album Fünf Minuten. Weil die 33-Jährige das Herz jederzeit auf der Zunge trägt, weil sie ungefiltert und ohne ironische Absicherung ihr Innerstes nach außen kehrt, entstehen über karger Akustikgitarren-Begleitung Formulierungen, die so noch nicht zuvor in deutscher Sprache gesungen wurden. Eine Poesie, die einerseits ungelenk wirkt, unfertig und roh, andererseits aber gerade durch ihre Unverstelltheit griffig wird.

„Nichts ist echt, außer Du fühlst es“, hat sie ihre Arbeitsweise in einem ihrer neuen Songs zusammen gefasst. Dieser unbedingte Wille, keine innere Regung unbesungen zu lassen, führt bei manchem Zuhörer zu peinlich berührter Fremdscham. Alle anderen lieben Maike Rosa Vogel, weil sie zu singen wagt, was der Mensch sich gewöhnlich nicht zu sagen traut. Das können kitschige Wünsche sein („Komm, lass uns unter freiem Himmel pennen oder nackt über Weizenfelder rennen“), nur scheinbar simple Lebenshilfe („Ein Hoch auf die Freiheit – und das Unvollkommensein“) oder auch pathetische Beschreibungen der großen Macht der Liebe („Als wir uns fanden, war ich bereit zur Revolution“). Sie kann nicht lügen, sagt sie. Konnte sie noch nie, schon als Kind nicht. Und jetzt, als Mutter einer dreijährigen Tochter und als Sängerin, will sie nicht mehr. Dieser Ansatz ist nicht nur radikal, sondern auch einzigartig.

Eine wie Maike Rosa Vogel gibt es hierzulande nicht mehr. Sie hat nicht nur ein anderes Geschlecht als all die selbstmitleidigen Schmerzensmänner, die momentan an jeder Ecke herumjammern, sie ist deren Gegenteil: Kämpferisch gerade in ihrer bedingungslosen Gefühligkeit, aufrichtig in ihrer gnadenlosen Subjektivität – und eben politisch, weil sie das Private hemmungslos nach außen trägt. Und wenn man glauben kann, was sie singt, und das muss man wohl, weil sie ja nicht lügen kann, dann wird alles gut: „An einem Abend im Juni“, intoniert sie hingebungsvoll wie immer, „hab ich mir die Formel für den Weltfrieden notiert“. Dann kann ja nichts mehr schief gehen. Thomas Winkler

CD, OUR CHOICE/GOODTOGO


Paco de Lucía: En Vivo – Conciertos Live In Spain 2010 | Er ist der Großmeister der Flamenco-Gitarre. Mit Anleihen bei Klassik und Jazz und genrefremden Instrumenten wie der Bassgitarre und der chromatischen Mundharmonika hat Paco de Lucía den Flamenco nachhaltig revolutioniert. So sehr, dass die südspanische Regionalmusik von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt wurde. Mit dem Doppelalbum En Vivo gibt es ihn und seine Klassiker in neuen Arrangements nun erstmals live, und man hört, dass sich der Spanier auch mit über 60 noch neu erfindet. Beeindruckend der Raum für die solistischen Ausflüge seiner Musiker, die wie ihr Chef Erneuerer sind, ohne die Tradition zu beschädigen. Peter Rixen

CD, UNIVERSAL MUSIC


PiL: This Is PiL | Vor vier Jahren hat sich John Lydon für 22.000 Dollar die Zähne richten lassen. Deren Zustand brachte ihm den Spitznamen Johnny Rotten ein, als er noch bei der Punkband Sex Pistols sang. Aber auch 34 Jahre nach dem Ende der legendären Pistols und selbst mit neuen Zähnen hat sich der mittlerweile 56-jährige Lydon seinen heiligen Zorn bewahrt: Auf This Is PiL, dem ersten Album seiner Band PiL seit zwei Jahrzehnten, eifert er wieder gegen die Regierenden, gegen die herrschenden Meinungen und gegen die allgemeine Dummheit. Wütend spuckt er die Silben aus, während seine Band einen eckigen, holpernden Post-Punk spielt, der sich weigert, die Moderne und ihre Moden zur Kenntnis zu nehmen. Stattdessen: sehr viel spröder Reggae, ein paar sperrige Rocksongs und bloß keine Verneigungen vor dem Zeitgeist. Der Groll mag mitunter ein wenig müde wirken. Aber solange die Welt noch verkommen ist, braucht es halt jemanden wie John Lydon, der sich in die Probleme verbeißt. Auch, wenn er es nun mit Jacketkronen tun muss. Thomas Winkler

CD, PIL OFFICIAL/CARGO RECORDS