WELT AM SONNTAG, 6. MAI 2012

Was diese Auseinandersetzung so schwierig macht: Für Ver.di geht es um deutlich mehr als das übliche Gefeilsche um Euro oder Prozentpunkte, es geht um eine Richtungsentscheidung. Denn die Gewerkschaft steckt in einem Dilemma: Wenn sie auf die Forderung des Insolvenzverwalters eingeht, rettet sie zwar womöglich zunächst Schlecker und sichert vielen ihrer Mitglieder die Jobs. In diesem Fall allerdings hätte die Gewerkschaft ihr Selbstbild vom Kämpfer für Mitarbeiterinteressen und als Verteidiger von Mindeststandards selber konterkariert. Ver.di agierte gegen die Interessen ihres Kerngeschäftes, würde durch eine weitere Ausnahme die eigene Einkommensarchitektur untergraben. Bei Karstadt hat die Organisation schon zwei derartige Sanierungstarifverträge abgeschlossen, Praktiker hätte jetzt auch gerne einen. Wie viele Ausnahmen kann man da machen, bevor aus der Ausnahme die Regel wird?


Wer profitiert?

FRANKFURTER ALLGEMEINE, 5. MAI 2012

Kräftige Gehaltssteigerungen, wie sie dieser Tage in Tarifauseinandersetzungen erkämpft werden, würden ohne das Engagement von Gewerkschaften kaum zustande kommen. Und dennoch profitieren danach auch die Unorganisierten vom Tarifergebnis. Sie werden den Gewerkschaftsmitgliedern gleichgestellt. Es liegt auf der Hand, dass sich die Gewerkschaften schon lange bemühen, dies zu ändern.


Die Arbeiterklassen

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 2. MAI 2012

Es ist ein Wert an sich, wenn Gewerkschaften satisfaktionsfähige Partner sind. Es hat dies einen befriedenden Effekt auf Betriebe und Gesellschaft, den man gar nicht hoch genug einschätzen kann. Wo Unternehmen den legitimen Wunsch nach mehr Flexibilität äußern, sind Gewerkschaften auch dazu da, gegenzuhalten - denn wenn Flexibilität vor allem bedeutet, via Leiharbeiter eine zweite Lohnlinie zu eröffnen, dann fallen eines Tages Hunderttausende von Arbeitern von der ersten in die zweite Klasse. Dann gesellen sie sich zu jenen, die bereits heute allenfalls Arbeit nach Vorschrift verrichten, wenn sie nicht schon längst der Ingrimm gepackt hat. Wie soll da Produktivität entstehen?


Tanz in den Mai

FRANKFURTER ALLGEMEINE, 2. MAI 2012

Im vergangenen Jahrzehnt gab es in Deutschland zwei "Wachstumspakte": Der erste bestand aus Sozialreformen in Zeiten eines überforderten Wohlfahrtsstaats, besser bekannt unter der Chiffre "Agenda 2010", der zweite schuf staatliche Konjunkturanreize in Zeiten einer tiefen Wirtschaftskrise. Beide Programme brachten den Deutschen ein kleines Wirtschaftswunder und den Gewerkschaften deshalb neue Stärke. Doch am wenigsten die Gewerkschaften hatten das vorausgesehen, vornehmlich deshalb, weil sie gerne verdrängen, dass das zweite Programm auf das erste folgte - und nur deshalb so erfolgreich war. Sie hätten es gerne umgekehrt: heute ein Konjunkturprogramm, die Reformen irgendwann.


Ausgetrickst

DER TAGESSPIEGEL, 27. APRIL 2012

Alles, was die Kritiker sagen, stimmt. Das neue Konzept der Union für "allgemeine verbindliche Lohnuntergrenzen" ist eine "Mogelpackung", ein "fauler Kompromiss", ein "Wahlkampfmanöver", eine Art "Mindestlohn light". Und trotzdem ist das Konzept genial. Opposition und Gewerkschaften heulen auf, weil sie an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen wurden. Die SPD sieht sich um ein Wahlkampfthema geprellt, die Attraktivität der 1.-Mai-Demos dürfte weiter abnehmen. Wenn alle dasselbe wollen und sich nur noch in Nuancen unterscheiden, ist picknicken sinnvoller als agitieren.