Etwa 7,5 Millionen Menschen in Deutschland können nicht ausreichend lesen und schreiben. Mehr als die Hälfte von ihnen arbeitet. Sie tun alles, um ihre Probleme vor anderen zu verbergen. Nur wenige trauen sich aus dem Schatten der Scham und Angst

Schreibbeispiel aus dem Grundbildungskurs der Hamburger Volkshochschule

VON Michaela Ludwig (Text) und Karin Desmarowitz (Fotos)

Im Revers der dunkelblauen Funktionsjacke steckt wie eine umgekippte Schlaufe der griechische Buchstabe "alpha", Symbol des Bundesverbands Alphabetisierung. Uwe Boldt hat den Kragen hochgeschlagen. Breitbeinig, die Hände in den Jackentaschen vergraben, stemmt er sich gegen den Wind, der unerbittlich über die Elbe hinwegpeitscht. Auf den Kaianlagen am gegenüberliegenden Flussufer ragen Kräne und Brücken in den wolkenverhangenen Himmel über den weltweit modernsten Containerumschlagplatz Hamburg Altenwerder. "Ich bin stolz, dass ich im Hafen arbeite", sagt Uwe Boldt. "Ständig kommt ‘was Neues, und wir müssen uns weiterbilden."

In der Frühschicht haben der 52-jährige Hafenfacharbeiter und seine Kollegen in Altenwerder die Ladung des über 300 Meter langen Containerschiffs Kuala Lumpur Express gelöscht. Für die zwei Schiffsschrauben von je sechs Metern Durchmesser war sein Team von der Schwergutabteilung zuständig. In Handarbeit haben sie das Geschirr angelegt und dann die Ungetüme mit der Containerbrücke vom Laderaum auf den Kai gehievt. Für diese Arbeit sind nicht viele Worte nötig. Seit Jahren arbeiten die Männer Hand in Hand, vertrauen sich blind.

Uwe Boldt ist Sohn eines Schauermanns, wie die Hafenarbeiter damals genannt wurden. Sie verluden Kisten, Säcke und Fässer auf die Schiffe. Als 16-Jähriger begann auch der Junior im Hafen als Papierbote, brachte Frachtzettel von den Lagerschuppen zum Büro in der Speicherstadt. Das ist 36 Jahre her. Später belud er für die Hamburger Hafen- und Lagerhaus-Aktiengesellschaft (HHLA), heute Hamburger Hafen und Logistik AG, Frachtschiffe mit Stückgut und ersten Containern. Mit dem Siegeszug der Stahlkästen wurden neue Maschinen zum Verladen entwickelt wie der Van-Carrier mit seinen hohen Stelzenbeinen oder die Containerbrücke. Joystick und Touchpad lösten Griepen, die Haken für Kisten und Säcke, ab. Aus Schauerleuten wurden Hafenfacharbeiter.

"Ständig kommt was Neues, und wir müssen uns weiterbilden", sagt Uwe Boldt

Uwe Boldt braucht beide Hände, um all die Scheine aufzuzählen, die er im Laufe der Jahre hier erworben hat: als Kranführer, für den Umgang mit Gefahrgut bis hin zum Abschluss als Hafenfacharbeiter. Eine Bilderbuchkarriere für jemanden ohne Hauptschulabschluss. Doch was über all die Jahre die meiste Kraft zog, waren weniger die gestiegenen Anforderungen. Der Mann mit der schmalen Brille, der immer einen Kugelschreiber in der Brusttasche bei sich trägt, hütete ein sehr belastendes Geheimnis: Er hatte große Probleme mit dem Lesen und Schreiben.

Das Verstecken ist vorbei. "Ich habe mich geoutet", sagt Uwe Boldt und zeigt auf das "alpha" am Jackenrevers. Heute verrät er jedem, den es interessiert, dass er einer von 7,5 Millionen "funktionaler Analphabeten" in Deutschland ist. So werden die Menschen bezeichnet, die nicht ausreichend lesen und schreiben können. Uwe Boldt hat sich entschlossen, aus dem Schatten der Scham und Angst herauszutreten.

Die meisten sind unsichtbar

Nur wenige Kilometer entfernt sitzt Anke Grotlüschen in ihrem Büro in der pädagogischen Fakultät der Universität Hamburg. Die Regale voller Bücher und Aktenordner reichen bis unter die Decke. Dies ist die Welt der Schrift. Die Professorin für Lebenslanges Lernen hat im vergangenen Jahr erstmals verlässliche Zahlen über funktionalen Analphabetismus in Deutschland vorgelegt. Bis dahin waren Politik und Fachwelt von etwa vier Millionen Menschen ausgegangen. Die Erkenntnis, dass weitaus mehr, nämlich 7,5 Millionen und damit 14 Prozent der deutschen Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren betroffen sind, hat breites Entsetzen ausgelöst. "Diese 7,5 Millionen Menschen sind nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Leben in angemessener Form teilzunehmen", sagt Anke Grotlüschen. Die meisten sind unsichtbar, versuchen um keinen Preis aufzufallen.

Der Druck ist wohl unvorstellbar, insbesondere am Arbeitsplatz. Denn auch eine weitere Zahl hat die Experten überrascht: Immerhin 57 Prozent der funktionalen Analphabeten stehen im Arbeitsleben, drei Viertel von ihnen arbeiten Vollzeit. "Damit konnten wir die bis dahin verbreitete Annahme widerlegen, dass funktionale Analphabeten aus dem Erwerbsleben ausgeschlossen seien", so Anke Grotlüschen. Viele arbeiten als Bauhilfsarbeiter, Reinigungskräfte, Transport- und Frachtarbeiter, Köche, Maler oder Verkäufer. Nur wenige haben es wie Uwe Boldt zum Facharbeiter gebracht.

Der ist, wie die meisten anderen auch, neun Jahre zur Schule gegangen. Obwohl die Lehrer sahen, dass er beim Lesen und Schreiben erst hinterherhinkte, dann zurückblieb, ist er nicht ein einziges Mal sitzengeblieben. "Ich wurde immer wieder aus pädagogischen Gründen versetzt", sagt Uwe Boldt. Schlüsselbunde, die durch den Klassenraum flogen, oder das Peitschen des Rohrstocks - die Bilder aus der Schulzeit möchte er am liebsten aus der Erinnerung verbannen. Mit leiser Stimme erzählt er vom Gelächter der Mitschüler, wenn er vorlesen musste.

Beipackzettel für Medikamente - ein unüberwindbares Hindernis

Die Welt der Schrift ist für diese Menschen ein undurchdringliches Dickicht. In den Texten, schon in Sätzen oder einzelnen Wörtern droht die Gefahr, sich zu verheddern, zu stolpern. Deshalb wagen sich viele erst gar nicht hinein. Handyverträge, Fahrkartenautomaten, schriftliche Arbeitsanweisungen oder Beipackzettel für Medikamente werden zu unüberwindbaren Hindernissen und bleiben meist ungelesen. Doch schwieriger ist das Schreiben. Banküberweisungen, Arbeitszettel - bei all diesen scheinbaren Selbstverständlichkeiten fühlte Uwe Boldt den Schweiß ausbrechen. "Ich habe versucht, mich durchzumogeln und möglichst wenig zu schreiben." Vieles konnte er durch sein gutes Gedächtnis ausgleichen. "Bei den Prüfungen hatte ich Glück, da musste man nur ankreuzen." So bestand er auch die theoretische Führerscheinprüfung. Bis heute ist Uwe Boldt ein aufmerksamer Zuhörer und konzentrierter Beobachter.

Ein schwarzes Notizbuch war sein ständiger Begleiter. Es war so klein, dass es in jede Hosentasche passte. "Wenn ich auf der Bank Geld abheben wollte, hat meine Schwester vorher alle Wörter hineingeschrieben, die ich dort brauchte", erzählt er. In das Büchlein kopierte er auch die Begriffe, die er am nächsten Tag auf dem Terminal in die Papiere eintragen musste. "Die konnte ich dann einfach abschreiben."

Wenn es eng wurde, konnte er sich auf zwei eingeweihte Kollegen verlassen. Doch mit den Jahren wurde der Job anspruchsvoller. Irgendwann hieß es, dass er bei Gefahrguttransporten auch den Papierkram machen solle. Da wurde ihm klar, "es musste was passieren".

Anfang 50, Schreib- und Leseschwäche - da ist die Arbeitssuche aussichtslos

Marko Kneisel sitzt in einem Bistro im Hamburger Hauptbahnhof. Er bestellt ein großes Glas Mineralwasser, bevor er zu erzählen beginnt. Auch bei ihm sah es all die Jahre so aus, als könne er in seinem Job alt werden. Der gelernte Maler und Lackierer arbeitete als Betriebshandwerker in einem Hamburger Chemieunternehmen, "gut abgesichert". Genau 21 Jahre und drei Monate. Solche Daten hat Marko Kneisel immer im Kopf, normalerweise ist er sehr organisiert und aufgeräumt. Doch seit zwei Wochen und einem Tag ist er "völlig durch den Wind". Seitdem hockt der schlanke 51-Jährige, der "Speiche" genannt wird, zu Hause. "Das mit der Arbeitslosigkeit ist ein hartes Brötchen", sagt er und seine Stimme stockt. Seinen Betrieb hat ein amerikanischer Investor geschluckt und ein Drittel der 186 Beschäftigten entlassen.

"Ich habe solche Angst, dass sie mich bei meiner neuen Arbeit wieder rausschmeißen, weil ich es nicht wuppe", sagt Marko Kneisel

Mit Anfang 50 ist es ohnehin schwierig, einen neuen Job zu finden. Aber es ist fast aussichtslos, wenn man Probleme mit dem Lesen und Schreiben hat. "Ich habe solche Angst, dass sie mich bei meiner neuen Arbeit wieder rausschmeißen, weil ich es nicht wuppe", sagt Marko Kneisel und fährt sich durch die sorgfältig frisierten Haare mit den blonden Strähnchen. "Wenn ich einen Zettel ausfüllen soll und mir jemand dabei zuschaut, fange ich an zu zittern." Wer seine Schrift sehe, wisse doch sofort Bescheid. Auf Stellenanzeigen, in denen gute Deutschkenntnisse in Wort und Schrift gefordert sind, bewirbt er sich erst gar nicht. Beim letzten Vorstellungsgespräch für einen Job als Hausmeister hatte er sein Problem deshalb "gleich auf den Tisch gebracht". Er hebt die Schultern: "War das richtig?"Marko Kneisel ist ratlos.

Dabei hatte es damals mit dem Lesen und Schreiben doch so weit gereicht, dass er nach der Sonderschule seinen Hauptschulabschluss und später die Prüfung zum Malergesellen packte. Aber das ist zu lange her. Wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam, nahm er kein Buch, keine Zeitung zur Hand. Und was muss man schon schreiben, abgesehen von den immer selben Wörtern auf den Wochenzetteln? Der Weg zurück in die Arbeitswelt ist heute schwieriger geworden, meint Marko Kneisel. "Damals stellte man sich kurz vor, und der Chef fragte, wann man anfangen will."

Der schwierige Berufseinstieg

Solveig K. hatte Glück im Unglück. Die Förderschule habe sie ohne Abschluss verlassen, erzählt die heute 26-Jährige und rührt in ihrem Roibuschtee, den der Kellner vor ihr abgestellt hat. In der Karte war er nicht aufgelistet, aber sie hat nachgehakt. Das wäre früher undenkbar gewesen, da hätte sie schnell die Bestellung ihrer Begleitung wiederholt.

"Ich hatte endlich Lehrer, die auf mein Problem eingingen und mich richtig förderten", sagt Solveig K.

Solveig K. ist Diabetikerin und hat einen Schwerbehindertenausweis. Deshalb übernahm die Arbeitsagentur damals die Kosten für eine dreijährige Berufsvorbereitung in einem Internat in Husum. "Ich hatte endlich Lehrer, die auf mein Problem eingingen und mich richtig förderten", erzählt sie. "Da habe ich Lesen und Schreiben gelernt." Und den Hauptschulabschluss geschafft. Zurück in Hamburg jobbte die resolute junge Frau erst als Näherin, dann in einem Teegeschäft. Vor zwei Jahren kam sie in eine Maßnahme zur beruflichen Eingliederung von Menschen mit Behinderung. Darüber fand sie ihre jetzige Arbeitsstelle in einer Zentralküche, die Essen an Seniorenheime und Kindergärten ausliefert.

Natürlich wusste ihr Chef über ihre Probleme mit dem Lesen und Schreiben Bescheid. "Er dachte, es sei viel schlimmer", erzählt Solveig K. und lacht. "Als ich ihm erzählte, dass ich den Führerschein habe, wäre er fast vom Stuhl gefallen." Heute arbeitet sie sehr eigenständig. Die "Gemüsemaus" ist für die Gemüsebestellung und die Zubereitung von Salaten und Desserts verantwortlich. Für die Bestellungen muss sie am Computer Listen erstellen und überprüfen, was im Lager fehlt.

Doch wie ist es möglich, dass in einem so hoch entwickelten Land wie der Bundesrepublik so viele Menschen nicht ausreichend lesen und schreiben können? Wie Uwe Boldt sucht auch Marko Kneisel die Ursachen in seiner Familie. "Niemand hat sich für mich interessiert", stellt er bitter fest. "Nachhilfe hab ich nicht bekommen, angeblich wegen des Geldes." Er zeigt auf das braun-weiße Emblem des FC St. Pauli an der Wand gegenüber. "Da komm‘ ich her und da gehör‘ ich hin", sagt er nachdenklich.

Auf dem Kiez ist er aufgewachsen, nur einen Steinwurf von der Reeperbahn. Wenn der Vater nicht im Hafen malochte, hockte er in der Kneipe. "Wegen der Sauferei gab es ständig Ärger." Seine Mutter arbeitete als Kellnerin in einer Bowlingbahn. "Wenn sie los musste, bin ich durchs Klofenster abgehauen und habe dummes Zeug gemacht." Da war er noch nicht einmal zehn Jahre alt. Morgens in der Schule konnte er die Augen kaum offen halten. Er wurde in die Sonderschule geschickt. "Mir wurde im Leben nichts geschenkt. Ich habe mir alles erarbeitet", sagt er, und in seiner Stimme schwingt Stolz mit.

Noch immer besucht er den Lese- und Schreibkurs der Volkshochschule. Uwe Boldt ist, mit einer längeren Unterbrechung, seit zwölf Jahren dabei. Jeden Dienstag und Donnerstag, wenn sein Schichtplan es zulässt.

Als Mutmacher in der Mitarbeiterzeitung

"Diese 7,5 Millionen Menschen sind nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Leben in angemessener Form teilzunehmen", sagt Anke Grotlüschen

Von den Kollegen gab es keine bösen Worte oder verächtlichen Blicke, als er sein Geheimnis offenlegte. Er hatte lange mit sich gerungen. Das Gegenteil trat ein, er erntete Hochachtung und Unterstützung. Vor einem Jahr bat ihn der Betriebsrat, als kollegialer Berater Kollegen mit ähnlichen Problemen zu unterstützen. Als "Mutmacher" wurde er in der Mitarbeiterzeitung vorgestellt. Seine Arbeitszettel füllt er heute allein aus, ohne sein schwarzes Notizbuch. "Ich frag dann einen Kollegen, ob alles richtig geschrieben ist. Wenn nicht, setze ich mich noch einmal ran."

Uwe Boldt und Solveig K. besitzen beide E-Mail-Accounts, die sie möglichst jeden Tag checken: Sie gehören zum Alpha-Team der Hamburger Volkshochschule. Gemeinsam mit einer Handvoll Kolleginnen und Kollegen, die sich ebenfalls "geoutet" haben, erkunden sie die Welt der Medien, machen Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache. Nun sitzen sie schon mal auf Podien neben Professorin Anke Grotlüschen und beantworten Anfragen von Journalisten. So wollen sie auch andere Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten ermutigen, die Beratungen und Kurse der Volkshochschulen aufzusuchen. "Nur 30.000 von den 7,5 Millionen Analphabeten besuchen Lese- und Schreibkurse", erzählt Uwe Boldt. "An die restlichen müssen wir rankommen." Um die Kollegen in den Betrieben zu erreichen, hofft das ver.di-Mitglied auf Rückhalt aus den Gewerkschaften. "Wir sind ja nicht dumm, und wir wollen arbeiten. Aber wir brauchen Unterstützung!"

Hier gibt es Hilfe

Die meisten Analphabeten haben im Betrieb einen Kollegen, der sie unterstützt. Häufig ist es diesen "Delegationspartnern", wie die Helfer genannt werden, gar nicht bewusst, welche Problematik der Kollege oder die Kollegin mit sich herumträgt. Unter folgenden Adressen finden Helfer bzw. Betroffene Informationen und Unterstützung.

Alpha-Telefon: Unter der Nummer 0800 / 53 33 44 55 können sich lese- und schreibunkundige oder -schwache Menschen sowie deren Helfer beraten lassen über Lernmöglichkeiten vor Ort.

Der Bundesverband Alphabetisierung e.V. hat eine Datenbank eingerichtet, in der alle Einrichtungen erfasst sind, die Alphabetisierungskurse anbieten: www.alphabetisierung.de

Plattform zum Lesen, Schreiben und Rechnen lernen: www.ich-will-lernen.de