Letzte Hilfe

Liebe | Anne und Georges können auf ein erfülltes Leben als Konzertpianisten zurückschauen, sind somit eigentlich zu beneiden. Zumal sie bis ins hohe Alter eine harmonische Ehe führen, finanziell als Pensionäre gut abgesichert sind und auch mit 80 immer noch Freude haben an der Musik und guten Büchern.

Doch plötzlich muss sich das Ehepaar gewaltig umstellen. Halbseitig gelähmt ist Anne nach einem kleinen Schlaganfall auf den Rollstuhl angewiesen – und bei vielen Verrichtungen auf ihren Mann. Ihm macht das nichts aus: Verständnisvoll und geduldig unternimmt er alles, um ihr die Situation so angenehm wie möglich zu machen, ist zur Stelle, wenn sie auf die Toilette oder ins Bett gehievt werden muss. Anne aber leidet unter dem Verlust an Lebensqualität und wünscht sich zu Georges großem Kummer den Tod. Erst recht, als sich ihre Situation verschlimmert.

Sehr präzise und konzentriert an nur einem Schauplatz – eine prächtige Altpariser Künstlerwohnung – zeichnet Regisseur Michael Haneke bewegend nach, wie die kultivierte, alte Dame sukzessive zu einem Pflegefall wird. Man würde solche Szenen gewiss lieber verdrängen. Doch so schlecht, wie es um die Akzeptanz von aktiver Sterbehilfe noch immer bestellt ist, scheint es an der Zeit, genau hin- und nicht länger wegzuschauen: Den möchte man sehen, der dem Leben noch etwas abtrotzen will, wenn er wie Anne gewindelt, gewaschen und gefüttert werden muss, nur noch stammeln – und nichts Erbauliches mehr tun kann.

Man muss kein Psychologe sein, um zu erkennen, dass Anne mit all ihren verbliebenen Kräften gegen ihr menschenunwürdiges Dasein protestiert, nicht nur wenn sie sich kopfschüttelnd weigert, aus der Schnabeltasse zu trinken. Grandios, wie Emmanuelle Riva diesen anspruchsvollen Part meistert. Wie gelingt ihr das nur ohne Selbsterfahrung, fragt man sich. Und schließt zugleich den ebenso großartigen Jean-Luis Trintignant ins Herz, der ungemein berührt mit seinem gütigen Wesen.

Gemessen an ihm wirken die Tochter des Paars und die anderen Jüngeren, die gelegentlich bei ihm aufkreuzen, mit der Situation überfordert: betreten in ihrem Schweigen, mitleidig, einfältig, hilflos, gar schnippisch. Allein George kann sich offenbar in Anne hineinversetzen. Er wird ihr im richtigen Moment einen Liebesdienst erweisen, sie von ihrem Leiden erlösen. Man atmet tief durch, wenn das geschieht. Aber so schlimm ist es gar nicht, sondern ungemein befreiend. Das Schönste aber an diesem preisgekrönten Meisterwerk ist ein zauberhaftes Geheimnis! Kirsten Liese

F/A/D 2012. R: Michael Haneke. D: J.-L. Trintignant, Emmanuelle Riva, Isabelle Huppert, 126 Min., Kinostart: 20.9.2012


Parada | Vorurteile sind eine feine Sache. Wird aber die Bulldogge angeschossen und von einem lieben Veterinär mit rosa Kleinwagen gerettet, dann gerät auch ein Machogangster und Kriegsveteran in die Gefahrenzone, nämlich jene von Freundschaft und Toleranz. Um die Zerissenheiten im ehemaligen Jugoslawien abzubilden, erzählt diese Tragikomödie von der gewaltsam zerstörten Gay-Pride-Parade in Belgrad von 2010. Knüpft ohne Rücksicht auf Gewohntes Kitsch an Klischees; bizarrer Spaß verbündet sich mit der Botschaft zur Verbrüderung alter Feinde. Regisseur Srdjan Dragojević freut sich über die hohen Zuschauerzahlen im Balkan. Und hofft das Beste für die nächste Schwulenparade, am 6. Oktober in der serbischen Hauptstadt. Jutta Vahrson

RS/HR/MK/SI 2012 R: S. Dragojević. D: N. Kojo, M. Samolov, u.a., 115 Min., Kinostart: 13.9.2012


Sound of Heimat | Volksmusik? Singende Fischer im Flensburger Hafen? Da rollen die Augen. Bis man diesen Dokumentarfilm sieht. In dem reist ein neuseeländischer Saxophonist aus Köln über Land, um die alten Lieder aufzuspüren. Und stellt fest: Die Deutschen singen überall. Wir schunkeln im „Weißen Holunder“ zu Kölle, begeistern beim Bamberger „Antistadl“, besuchen Wander-und-Jodel-Workshops auf den Wipfeln des Allgäu. Das Feldwegmovie versammelt glückliche Laien und Profis wie Sängerin Bobo und den Liederjan. Aber es erwähnt auch den Missbrauch von Volksliedern durch die Nazis. Davon unberührt singen bis heute die Bandoneon-Instrumentenbauer im Vogtland das Lied Glück auf über die Liebste und das Schuften im Stollen. „Melancholie gehört in Deutschland wohl immer dazu“, sagt der Saxophonist. Schniefen beim Lauschen ist erlaubt. Jutta Vahrson

D 2011 R: Birkenstock/Tengeler, 90 Min., Start: 27.9.12