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Amanda Palmer and The Grand Theft Orchestra: Theatre Is Evil | Vielleicht werden Historiker einmal feststellen: Genau in diesem einen Moment hat die Zukunft begonnen. Als die britische Musikerin Amanda Palmer, bekannt durch ihr exzentrisches Auftreten, durch verführerische Kostüme und hämmerndes Klavierspiel, die Mechanismen des Musikgeschäfts vollkommen auf den Kopf stellte – und damit ungeahnte Erfolge feierte.

Die Geschichte, die Geschichte schreiben könnte, beginnt am 1.Mai des Jahres 2012. An diesem Tag startet die 36-jährige Palmer auf der Fundraising-Website „Kickstarter“ eine Aktion: Um Theatre Of Evil, ihr neues Album mit dem Grand Theft Orchestra, aufnehmen und herausbringen zu können, sucht sie sich keine Plattenfirma, sondern im Internet nach Unterstützern. 23 verschiedene Beteiligungsmöglichkeiten werden angeboten: Vom späteren digitalen Download des Albums für einen einzigen Dollar bis zu einem Paket für 10.000 Dollar, das ein Abendessen mit der Künstlerin und ein von ihr höchstpersönlich gemaltes Porträt des Spenders beinhaltet.

Solches Fundraising ist keine Erfindung von Palmer, aber kein Musiker war damit jemals so erfolgreich: Beim Abschluss der Aktion hatten 24.883 Unterstützer genau 1.192.93 Dollar gespendet, die nun auch noch zum Teil 30 Künstlern zugute kommen, die Palmer beauftragte Werke zu schaffen, die von ihren Songs inspiriert wurden. Der Erfolg dieses Gesamtkunstwerkes kam in seiner Höhe überraschend, aber nicht von ungefähr. Nicht nur kann Palmer bereits auf eine erfolgreiche Karriere mit ihrer ersten Band Dresden Dolls zurückblicken und besitzt dadurch einen Bekanntheitsvorteil, der ihr beim Fundraising zugute kommt. Vor allem nutzt sie intensiv alle Möglichkeiten der digitalen Interaktion mit ihren Fans, vor allem Twitter. Auf dieser Kommunikationsplattform, erklärt sie, müsse man agieren wie „ein guter Party-Gastgeber“, um eine möglichst enge Bindung zwischen Künstler und Konsument zu schaffen.

Nun erscheint Theatre of Evil, und Palmer hat nicht nur vorgemacht, wie man die digitale und die analoge Welt effektiv miteinander verknüpft. Sie hat vor allem auch gezeigt, wie zukünftig das Geschäft mit der Musik aussehen könnte. Keine gute Nachricht für die kriselnden Plattenfirmen, die noch an ihrem alten Geschäftsmodell festhalten. „Mit Twitter“, sagt Palmer, „kann man Google und ein Management ersetzen”.

Aber ob Amanda Palmer tatsächlich die Welt verändert hat, das werden wir erst in 20 oder 50 oder vielleicht auch erst 100 Jahren wissen. Bis dahin hat sie ein Album eingespielt, das sogar mithalten kann mit der Aufregung um seine Entstehung. Und zumindest das ist schon geschichtsträchtig. Thomas Winkler

CD, Cooking Vinyl/Indigo


Staff Benda Bilili: Bouger Le Monde | Eine Gruppe obdachloser Behinderter, die in Kinshasa auf der Straße leben, werden mit Hilfe billiger Instrumente, mitreißender Rumba und einem Dokumentarfilm zu Superstars. Zuhause immer noch weitgehend unbekannt, füllen sie in Europa große Hallen, auf deren Bühnen sie auf Krücken stehen oder in Rollstühlen sitzen. Mit ihrem neuen Album versucht die achtköpfige Band aus dem Kongo nun, das Image als Kuriositätenschau abzulegen. Bouger Le Monde ist anzuhören, dass diesmal mehr Geld für die Aufnahmen zur Verfügung stand: Das Klangbild ist voller und variantenreicher geworden, die Rockmusik hat ein paar zusätzliche Spuren hinterlassen. Unverändert geblieben aber sind die rasanten Rhythmen, die im Kontrast stehen zu den harmonisch komplexen, mehrstimmigen Klagegesängen, in denen Staff Benda Bilili vom Leben in den Straßen Kinshasas berichten. Sonderbar, aber wunderschön. Thomas Winkler

CD, Crammed Discs/ Indigo


Unterbiberger Hofmusik: Bavaturka – Türkische Reise | Unterbiberg ist schon seit Jahren eine Marke in Sachen Weltmusik. Denn das Dörfchen im Südosten Münchens beherbergt die Familie Himpsl. Franz Josef und sein Clan sind waschechte Bayern. Solche in Lederhose und Dirndl, mit Blasinstrumenten, Akkordeon, Harfe und vielem mehr. Bayerische Volksmusik ist aber nur der Ausgangspunkt ihrer Unterbiberger Hofmusik. Die inspiriert nämlich ein international operierendes Netzwerk. Neuester Geniestreich der Himpsls: Auf Bavaturka begegnen sich Alpenländisches und Anatolisches. Nach Gastspielen der Unterbiberger in der Türkei war F.J. Himpsl von der Musik vor Ort so tief beeindruckt, dass er den Brückenschlag von bayerischer Blasmusik zu orientalischen Rhythmen und Tonskalen mit Hilfe von Oud-Spieler Şeref Dalyanoğlu unbedingt realisieren musste. Wirklich gelungen und zugleich eine Absage an den Analog-Käse aus dem Stadl. Peter Rixen

CD, Himpsl Rec./Edel Kultur