Wer bin ich und wenn ja, wieviele?

Hans Unstern: The Great Hans Unstern Swindle | Ungewöhnlich. Bahnbrechend. Einzigartig. Man muss vorsichtig sein, wenn man solche Superlative liest. Meist entpuppt sich das vermeintliche Unikat dann doch wieder nur als Wiederkäuer. Hans Unstern allerdings darf man getrost als ungewöhnlich, bahnbrechend und einzigartig titulieren. Wahlweise kämen aber auch gewöhnungsbedürftig, irritierend oder nervtötend in Frage. Denn The Great Hans Unstern Swindle, das neue Album des Sängers und Dichters, muss einem nicht gefallen, aber eins steht fest: Einen wie Hans Unstern hat es hierzulande noch nie gegeben.

Unstern umgab sich bereits, als vor zwei Jahren sein erstes Album Kratz Dich Raus erschien, mit einer mysteriösen Aura. Sein Gesicht versteckte er hinter einem dichten Bart, seine Intentionen hinter wortkargen Antworten und seine Vorgeschichte hinter vollständigem Schweigen. Diese Verweigerung treibt er nun auf die Spitze: Anlässlich seines zweiten Albums und des parallel erscheinenden Gedichtbandes Hanky Panky Know How gibt er gar keine Interviews mehr. Stattdessen schickte er ein Hans-Unstern-Double zur Pressekonferenz, das ihm nicht im mindesten ähnlich sah, aber offensichtlich vorformulierte Antworten vortrug. In denen war zwar die Rede von Baudelaire, der GEMA oder auch von der "Krise kapitalistischer Verwertungsmöglichkeiten", aber in erster Linie dienten sie zur weiteren Verschleierung der Künstleridentität. In zweiter Linie dazu, Unstern, von dem kaum mehr bekannt ist, als dass er seit einigen Jahren in Berlin lebt, von der Pflicht zu befreien, seine Lieder erklären zu müssen.

Das ist wohl auch eine gute Taktik. Nicht nur, weil solch ein Geheimnis die Kunst geradezu automatisch aufwertet. Sondern vor allem, weil Unsterns Lieder tatsächlich nicht mit jener schlichten Psychologisierung zu fassen sind, in der sich die Popkritik gewöhnlich übt. Es sind sperrige, klobige Lieder, die tief ins Seelenleben eindringen, extrem kryptisch und doch unglaublich handfest. Unstern singt von "schwarzen Tränen", in seinen Texten streiten Fische um das Erbrochene seiner Liebsten und ihre Haare sind "zu einer Waffe zerzaust".

So wundervoll und gleichzeitig unzugänglich wie seine Gedichte sind auch die Melodien, in denen Unstern sie vorträgt. Ein Harmonium, das schon Tom Waits sehr liebte, quengelt durch einen der schönsten Songs des neuen Albums, während Unstern singt: "Es fällt Hülle um Hülle um Hülle." Dabei zuzuhören mag anstrengend sein, fordernd und mühsam. Aber es lässt einen nicht kalt. Und führt zweifellos zu dieser einen Erkenntnis: Hans Unstern ist ungewöhnlich, bahnbrechend und einzigartig. Thomas Winkler

CD, STAATSAKT/ROUGH TRADE, LYRIK, HANS UNSTERN: "HANKY PANKY KNOW HOW", MERVE VERLAG


Kiss: Monster | Im kommenden Jahr feiert Kiss ihren 40. Geburtstag. Die rockende Halloween-Show mag nun also kurz vor dem Eintritt ins Rentenalter stehen, aber ihr neuestes, bereits 20. Studioalbum klingt sensationell lebendig. Dabei folgt das New Yorker Quartett bloß seiner altbekannten Erfolgsformel, die Gitarrist Paul Stanley, 60, einziges verbliebenes Originalmitglied neben Bassist, Feuerschlucker und Zungenartist Gene Simmons, 63, einst so umschrieb: "Hör auf zu langweilen, komm schnell zum Refrain." Tatsächlich kann man nahezu jeden Song auf Monster mitsingen, sobald der Refrain zum ersten Mal verklungen ist. Dass die zum Mitgröhlen bereitgestellten Texte oft nur notdürftig verklausulierte Aufforderungen zum Beischlaf sind, geht dank schwer stampfender Gitarren und laut bollerndem Schlagzeug meist unter. Als Kiss sich 1973 gründeten, verstanden sie den Rock'n'Roll vor allem als eskapistische Unterhaltung. Bald vier Jahrzehnte später liefert die selbsternannte "Hottest Band in the World" immer noch vor allem eins: erstklassiges Entertainment. Thomas Winkler

CD, UNIVERSAL


The Touré-Raichel Collective: The Tel Aviv Session | Idan Raichel, Keyboarder und Israeli mit ausgeprägtem Sinn für einen musikalischen Mix aus Nahöstlichem und Reggae-Grooves, schwärmt schon länger für den Savannen-Blues von Vieux Farka Touré. Der Gitarrist und Sänger aus Mali ist der älteste Spross des legendären, 2006 verstorbenen Ali Farka Touré, dem die Weltmusik-Gemeinde eines der schönsten Alben überhaupt verdankt: Talking Timbuktu, 1993 mit Ry Cooder eingespielt. Im strikt akustischen Sound feiert das Touré-Raichel Collective ein Fest der Entschleunigung. Zu den trancigen Grooves gesellen sich allenfalls mal Einsprengsel von traditionellen persischen Instrumenten wie der Laute Tar und der Kamancheh-Geige. Außerdem noch äthiopische Vocals und eine bluesige Mundharmonika. Die Entspanntheit der Aufnahmen ist dem Umstand geschuldet, dass sich die Musiker ohne den Druck einer beabsichtigten Veröffentlichung aufeinander einlassen konnten. Und fast nebenbei beweist die CD, was ein Muslim (Touré) und ein Jude (Raichel) für einander gewinnen können, wenn sie frei sind von ethnischen und religiösen Vorbehalten. Peter Rixen

CD, EXIL/INDIGO