Der ver.di-Bezirk Lüneburger Heide zählt von der Fläche her zu den größten ver.di-Bezirken. Rund 17.000 Mitglieder verteilen sich auf 8000 Quadratkilometern zwischen Hamburg und Hannover. Die fehlende Nähe der Geschäftsstellen gleichen aktive Mitglieder in ihrer Freizeit aus. Und treiben ver.di voran

Die Kündigung kam per SMS. Noch in der Probezeit kündigte der Arbeitgeber Sabine Schulz* fristgerecht. Ende des Monats sollte Schluss sein mit ihrem neuen Job, sagte ihr die Botschaft im Display. Eine schriftliche Bestätigung für die Arbeitsagentur werde er noch schicken, aber ab sofort sei sie freigestellt. Die junge Frau war schockiert, erst recht, als sie feststellen musste, dass der Arbeitgeber ihr das Gehalt für den letzten Arbeitsmonat nicht mehr zahlen wollte.

ver.di-Mitglied war Sabine Schulz schon seit der Ausbildung, doch wo findet man ver.di, wenn man auf dem platten Land wohnt? In der Nähe von Lüchow lebt sie, im Wendland, wo die Landesgrenzen von Niedersachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt aufeinandertreffen. Die nächstgelegenen Geschäftsstellen des zuständigen ver.di-Bezirks Lüneburger Heide wären in Lüneburg oder in Celle, beide mehr als eine Stunde Autofahrt entfernt. Weite Wege, nicht nur für eine Alleinerziehende, die wenig Geld und Zeit hat. Doch Sabine Schulz hatte Glück in ihrem Unglück. In Lüchow gibt es einen Gewerkschaftsladen.

Vorsitzender Horst Stenzel

Was machst du, was kannst du?

An vier Nachmittagen in der Woche und samstagvormittags ist er geöffnet. Zu finden ist er im Erdgeschoss eines kleinen Fachwerkhauses in der Bergstraße 40, im Zentrum der Kreisstadt. Eins der rund 1000 Mitglieder im ver.di-Ortsverein ist Horst Stenzel. Der ehemalige S-Bahn-Fahrer ist auf die Idee mit dem Gewerkschaftsladen gekommen, als er vor 13 Jahren aus Berlin ins Wendland gezogen ist. "Was macht Du hier, was kannst Du", habe er sich damals gefragt, sagt Horst Stenzel heute. S-Bahn-Fahren war nicht mehr, da blieb die Gewerkschaftsarbeit. Aber wo war die Gewerkschaft? Damals gab es noch ein ver.di-Büro in Uelzen, doch auch diese 42 Kilometer durch die flache Landschaft, vorbei an Orten wie Waddeweitz, Dommatzen und Dickfeitzen, waren für die meisten zu weit. Auch für Horst Stenzel.

Aber er fand den Ortsverein Lüchow-Dannenberg der damals frisch gegründeten Gewerkschaft ver.di. Ein feines Team, aber eher bei Treffen in Hinterzimmern und von zu Hause aus aktiv als in der Öffentlichkeit präsent. In dem Gewerkschaftsladen sollten ehrenamtliche ver.dianer/innen der Gewerkschaft in ihrer Freizeit ein Gesicht geben, eine erste Anlaufstelle sein für Menschen mit Problemen im Arbeitsalltag. Sabine Schulz hat das Team geraten, mit Hilfe des ver.di-Rechtsschutzes das ausstehende Gehalt einzuklagen. Die entsprechenden Kontakte hat man ihr auch vermittelt. Aber auch für den Klönsnack, den Schwatz zwischendurch, bietet der Laden einen Raum. Gewerkschaft als Teil des Alltags.

Vor sechs Jahren öffnete der Gewerkschaftsladen. Wer ihn an diesem Donnerstag Ende Januar durch die Glastür mit dem roten ver.di-Logo betritt, sieht als erstes das verschmitzt lächelnde Gesicht von Horst Stenzel. "Herzlich willkommen", sagt der groß gewachsene Mann in dem blauen Pullover mit Schulterklappen. Bei vielen, die in den Laden kommen, geht es um Kündigungen, um Mobbing, um Änderungen von Arbeitsverträgen. "Manche brechen in Tränen aus, wenn sie hier sind", sagt der 72-Jährige. Das Team des Ladens frage nicht nach dem Gewerkschaftsbuch, alle versuchten erst einmal zu helfen. Die Frage einer Mitgliedschaft ergebe sich, wenn Leistungen benötigt werden wie Rechtsschutz, auf den nur die ver.di-Mitglieder Anspruch haben. Eine Rechtsberatung dürfen Horst Stenzel und seine Kolleg/innen nicht selbst machen. Dafür sind die zuständig, die bei ver.di angestellt sind. Das sind insgesamt neun Leute im gesamten Bezirk Lüneburger Heide. Sie, die ver.di-Beschäftigten, kümmern sich nicht nur um den Rechtsschutz, sondern um alle Belange der rund 17.100 Mitglieder im Bezirk, von der Fläche her einer der größten in ver.di.

Anlaufstellen vor Ort

Horst Stenzel und seine 15 Mitstreiter/innen vermitteln die Kontakte zu den Hauptamtlichen. Für ihre Beratungen nutzen die dann oft wieder den Laden in Lüchow. Den Ratsuchenden reiche es meist erst einmal, wenn sie im Laden jemanden treffen, der sich um ihr Anliegen kümmert und die weitere Hilfe anschiebt, sagt Horst Stenzel. "Hier bei uns im Landkreis gehen viele Arbeitgeber saumäßig mit ihrem Personal um", hat er festgestellt. Neben der Verwaltung und einigen Krankenhäusern gibt es dort vornehmlich kleine Betriebe, oft ohne Betriebsrat, ohne Vertrauensleute. Da sind die Beschäftigten auf sich allein gestellt. Für sie ist der Gewerkschaftsladen als Anlaufstelle vor Ort besonders wichtig. Und wollen Belegschaften Betriebsräte gründen, unterstützen die ver.dianer sie. So halfen sie, die Bewacher am Zwischenlager in Gorleben zu organisieren, die mittlerweile einen Betriebsrat gewählt haben.

In der Verwaltung des Landkreises Lüchow-Dannenberg gibt es schon lange einen Personalrat. Dennoch ist seine Vorsitzende Britta Meyer, 46, froh, den Gewerkschaftsladen in ihrer Nähe zu haben. Sie nutzt ihn für Treffen, die außerhalb ihres Büros stattfinden sollen. Und für den Austausch mit anderen Aktiven, auch aus anderen Fachbereichen, anderen Gewerkschaften, Klönsnack inbegriffen.

Bilder von den vielen Aktivitäten des Ortsvereins hängen, auf große Pappschilder geklebt, an allen Wänden des Ladens. "Beidseitig beklebt", sagt Horst Stenzel stolz. Aktiv sind sie hier im Wendland, gleich welche Gewerkschaft, sie stehen zusammen. So weht die ver.di-Fahne solidarisch bei einer Aktion der IG Metall - und umgekehrt. Der DGB-Kreisverband ist am Gewerkschaftsladen beteiligt. Und ein Kollege von der IG Metall kommt kurz rein und erzählt, wie der Besuch von Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) Anfang der Woche verlaufen ist.

"Ich wollte als Rentnerin nicht in ein Loch fallen", sagt Inge Mende, die auch gerade im Laden ist. 28 Jahre hat sie in einem Krankenhaus gearbeitet, hat auch fünf Jahre nach ihrem Rentenbeginn noch viele Kontakte in die Branche. Nicht nur die nutzt die 66-Jährige, sie ist auch Mitglied der Schulkonferenz der berufsfördernden Schule und im Seniorenbeirat. Ebenso wie ihre Kolleg/innen vernetzt sie andere mit ver.di, sorgt dafür, dass die Gewerkschaft im Landkreis bekannt und vor allen Dingen erlebbar wird.

Rund 20 Stunden pro Woche verbringe allein er im Gewerkschaftsladen, sagt Horst Stenzel. "Wir wissen, dass wir damit an der Grenze unserer ehrenamtlichen Kapazitäten angekommen sind." Auch als Ehrenamtlicher brauche man die Betreuung von Hauptamtlichen, zum Beispiel, wenn irgendwo die Vertrauensleutearbeit nicht läuft, ein Betriebsrat gewählt werden soll oder ein Redner für eine Personalversammlung gesucht wird.

30.000 Kilometer im Auto

Matthias Hoffman (re.) und Hans-Henning Tech

Das weiß auch Matthias Hoffmann, der den ver.di-Bezirk Lüneburger Heide leitet. Mit 39 Jahren ist er einer der jüngsten Bezirksgeschäftsführer in ver.di. Ihm fehlt schlicht das Personal, um überall im Bezirk mit ver.di-Beschäftigten präsent zu sein. Deswegen sieht er es als Teil seiner Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Aktiven vor Ort motiviert arbeiten können, damit ver.di "in der Fläche präsent und dezentral erkennbar" ist. Sein Stellvertreter Hans-Henning Tech legt beispielsweise schon heute 30.000 Kilometer im Jahr mit dem Auto zurück. "Die enge Zusammenarbeit wird schwieriger, wenn die Menschen zu weit voneinander entfernt sind", sagt er, "deswegen sind wir auf die Ehrenamtlichen angewiesen."

In Uelzen hat der ver.di-Bezirk am 11. Januar gemeinsam mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft einen Gewerkschaftstreff eröffnet. Auch er liegt im Zentrum der Kreisstadt, in der Schuhstraße 32, in Blickweite des Rathauses. Als Sabine Spangenberg vor rund einem Jahr Matthias Hoffmann gefragt hat, ob man nicht auch in Uelzen einen Laden eröffnen könne, forderte er sie auf, ihm eine Liste mit mindestens 15 Freiwilligen für den ehrenamtlichen Dienst im Laden zu geben. Zwei Wochen hat es gedauert, dann standen 18 Namen auf dem Papier, das Matthias Hoffmann noch heute gerne zeigt. Er weiß, was er an seinen Ehrenamtlichen hat, staunt immer wieder über die Kraft, die sie entfalten.

Jetzt ist der Laden gemietet und eingerichtet. Noch hängen überall die bunten Luftballons von der Einweihungsfeier, an dem großen Konferenztisch sitzen Sabine Spangenberg, 60, und Andrea Hinz, 45, die Vorsitzende des Ortsvereins. Da die Öffnungszeit an diesem Donnerstagmittag ruhig verläuft, gehen die beiden Frauen die Inventarlisten durch, schauen, was ihnen noch fehlt. "Eine große Glasschiebetür", sagen sie auf die Frage nach dem dringlichsten Wunsch. Damit wollen sie die Möglichkeit schaffen, eine kleine Ecke für vertraulichere Gespräche abzutrennen.

Andrea Hinz (links) und Sabine Spangenberg

Vorher Dessous, jetzt ver.di

Während sie am Tisch sitzen, beobachten sie, wie immer wieder Passanten neugierig in das Schaufenster des ehemaligen Dessous-Geschäfts schauen. Die alte ver.di-Geschäftsstelle lag in der Nähe des Friedhofs, "da kam höchstens mal ein Leichenwagen vorbei", erinnert sich Sabine Spangenberg. Sie hatte nur selten geöffnet. "Viele Mitglieder kritisierten, dass da nie einer ist", sagt Andrea Hinz und lächelt einer Frau zu, die vor dem Treff stehen bleibt. Das ist jetzt anders. An drei Tagen die Woche hat der Treff zwei Stunden geöffnet, hinzu kommen zwei weitere Stunden am ersten Samstag im Monat, dem Markttag in Uelzen. Ausgedehnt werden sollen die Zeiten, wenn der Bedarf wächst. Renten- und Lohnsteuerberatung werden außerhalb der Öffnungszeiten angeboten. Während sich die einzelnen Fachbereiche früher oft in Kneipen getroffen und vor sich hin gewerkelt haben, ist der Treff jetzt für Zusammenkünfte gewerkschaftlicher Gruppen schon vielfach gebucht. Andrea Hinz und Sabine Spangenberg hoffen, dass die ver.dianer so auch untereinander mehr Kontakt bekommen.

Horst Stenzel und Inge Mende

Die ersten Ratsuchenden waren auch schon da. Und die erhoffte Vernetzung in Uelzen zeigt erste Ansätze. Drei Mitglieder des Uelzener Bündnisses gegen Rechts kamen zur Treff-Eröffnung, ver.di-Mitglieder nahmen mit ihren Fahnen ein paar Tage später an einer Demo gegen eine NPD-Kundgebung teil.

Wie viele Mitglieder bereit sind, stärker bei ver.di mitzumischen, hat der Bezirk in einer Telefonaktion Ende vergangenen Jahres abgefragt. 120 Mitglieder wurden dazu ausgesucht, die sich schon in ein Amt bei ver.di haben wählen lassen. Aktive aus allen Ortsvereinen haben sie angerufen, gefragt, ob sie besondere Fähigkeiten haben, Servicebüros unterstützen wollen, sie vielleicht besonders gut darin sind, Plakate und Schilder zu malen, oder sich einfach nur vorstellen können, diese zu Veranstaltungen zu bringen. Jetzt werden die Ergebnisse ausgewertet, die Neuen sollen möglichst bald einbezogen werden.

Karl Michael Liebscher hält die ver.di-Herde im Internet zusammen

Mar-Heinz Marheine hilft im Ortsverein Celle öfter mal den Verwaltungsangestellten, wenn sie für Briefaktionen viele Briefe einzutüten haben. Da er lange Jahre in Baumärkten gearbeitet hat, hat er noch gute Kontakte in die Branche. Geht er einkaufen, hat er immer eine Beitrittserklärung dabei. Damit ist der 62-Jährige mittlerweile in Celle im Handel bekannt, als einer von ver.di, der sich kümmert, den man auch nach Feierabend mal anrufen kann. Doch auch er braucht die ver.di-Beschäftigten. "Was nützt es, wenn ich Mitglieder werbe, die dann bei ver.di niemanden erreichen? Die treten doch sofort wieder aus."

Die Ortsvereine bekommen ein Budget und planen damit ihre Aktionen, sagt Horst Rabe, Vorsitzender des Ortsvereins Celle. Dafür hätten sie ihre Freiheiten. So haben sie in Celle entschieden, entgegen der Tradition die Jubilare statt auf einer Abendveranstaltung bei einem Brunch zu ehren. Ihr Erfolg: Es kamen mehr Gäste.

Und als ver.di Ende vergangenen Jahres bundesweit mit der Aktion Gerecht geht anders Schlagzeilen machte, haben die Celler selbst organisiert, dass sich einer von ihnen als "Obdachloser" in die Fußgängerzone legt, um mit dem entsprechenden Begleitprogramm auf die zunehmend ungerechtere Verteilung von Vermögen in Deutschland aufmerksam zu machen. "Die Ortsvereinsarbeit macht einen Riesenspaß", sagt Horst Rabe, 56, "organisieren, mit Leuten umgehen, ordnen, alles in die richtigen Bahnen lenken, dem Laden ver.di einen Schub geben." Doch bei allen Aktionen, die die Aktiven auf die Beine stellen, müsse am Ende ver.di dafür sorgen, dass der Service und die Bedingungen für die Mitglieder stimmen.

Immerhin: Der Bezirk Lüneburg hat es mit seinen sechs Ortsvereinen geschafft, das vergangene Jahr erstmals mit einem Plus an Mitgliedern abzuschließen.

Name geändert


Der Bezirk Lüneburger Heide

17.163 Mitglieder hatte der ver.di-Bezirk Lüneburger Heide zum 31. Dezember 2012. Die Mitglieder arbeiten vornehmlich im öffentlichen Dienst, im Handel, im Gesundheitswesen oder im Bereich Postdienste, Speditionen, Logistik. Der Bezirk deckt das Gebiet zwischen Hamburg und Hannover ab. Zur Zeit sind im Bezirk neun ver.di-Beschäftigte tätig, vier davon als Gewerkschaftssekretäre, fünf in der Verwaltung. Ein Teil der Fachbereiche wird von umliegenden Bezirken mitbetreut. Im Bezirk gibt es sechs aktive Ortsvereine und fünf ver.di-Büros, von denen zwei ausschließlich von ehrenamtlich Aktiven betreut werden.

Für den Bezirksvorsitzenden Detlef Rothe, 52, ist ein Plus des ver.di-Bezirks Lüneburger Heide, dass sich die Aktiven so stark mit ihm identifizieren, über alle sechs Ortsvereine hinweg engagiert sind, sich einmischen und eng zusammenstehen. Der Bezirk Lüneburger Heide ist der erste ver.di-Bezirk, der für seine Mitglieder im ver.di-Mitgliedernetz https://mitgliedernetz.verdi.de eine eigene Gruppe eingerichtet hat. Dort können nur die Mitglieder aus dem Bezirk sich austauschen, diskutieren und vernetzen. Wer Interesse an dem Gewerkschaftsladenkonzept hat, kann sich an matthias.hoffmann@verdi.de wenden. http://lueneburger-heide.verdi.de