83 Prozent des Personals eines Krankenhauses sind unmittelbar mit der Krankenversorgung befasst, 1 Proeznt ist klinisches Hauspersonal, 5 Prozent ist für den Wirtschafts- und Versorgungsdienst zuständig, 2 Prozent sind im technischen Dienst tätig, 7 Prozent in der Verwaltung, 2 Prozent sind weiteres Personal

In den deutschen Kliniken fehlen 162.000 Beschäftigte, das hat der ver.di-Personalcheck in bundesweit 200 Krankenhäusern ergeben. Nur ein Personalbemessungsgesetz kann Abhilfe schaffen

"Willkommen im Leben", so sollte das neue RTL-Reality-Format heißen. Die Kamera ist dabei, wenn Kinder im Krankenhaus das Licht der Welt erblicken. Daraus wird nun erst mal nichts. Nachdem der Berliner Senat die Dreharbeiten im Berliner Vivantes Klinikum im Stadtteil Friedrichshain Ende Februar gestoppt hatte, hat der Privatfernsehsender seine Produktion jetzt eingestellt. Dabei hatten die unbemannten Kameras nebenbei schon ein anderes Leben gefilmt, nämlich das der Krankenhausbeschäftigten. Und das ist manchmal lebensgefährlich. Willkommen im Leben also.

Grob fahrlässig: Nur eine Pflegekraft bei 30 Patienten

Am 19. Februar 2013 um 6.30 Uhr zieht Sabine Jandke, Physiotherapeutin und Betriebsrätin, mit einer Kollegin, die gerade aus der Nachtschicht kommt, im Vivantes Klinikum in Berlin Friedrichshain los, um auf den Stationen ihres Hauses die Kolleg/innen nach ihrer Arbeitssituation zu befragen."Grob fahrlässig" findet Sabine Jandke, dass auf allen Stationen, auch auf denen mit den frisch Operierten, im Normalfall eine Pflegekraft in der Nachtschicht allein mit 30 Patienten ist. "Das geht gar nicht", sagt sie.

Es geht auch nicht, dass an diesem Morgen in der Endoskopie nur zwei statt wie vorgesehen fünf Pflegekräfte bei der Arbeit sind. In der Sterilisation müssten in 24 Stunden 36 Beschäftigte ihren Dienst leisten. Es werden an diesem Tag nur 26 sein. "Die merken gar nicht mehr, wie sie nur noch durch die Gegend hasten", sagt Sabine Jandke. Eine Beschäftigte in der Sterilisation antwortet ihnen auf die Frage, wie viele sie denn sein müssten nur: "Die Geschäftsführung sagt, wir sind genug." Sabine Jandke kennt das: "Das ganz normale Personal hat immer auch die Finanzen im Kopf." Mit nach Hause nehmen sie dafür das Gefühl, nicht alles geschafft, irgendetwas vergessen zu haben. "Viele rufen von zuhause an, und fragen nach, ob sie Patient A seine Medikamente gegeben und Patientin B einen neuen Verband angelegt haben", sagt Sabine Jandke.

Personalcheck in der Klinikküche

"Wie viele Kolleg/innen seid ihr? Und wie viele müsstet ihr sein, um die Arbeit in der notwendigen Qualität machen zu können?" haben ver.dianer/innen an diesem 19. Februar bundesweit die Beschäftigten in insgesamt 200 Kliniken gefragt. Nicht nur die Pflegekräfte und das ärztliche Personal, sondern auch die Beschäftigten in den Klinikküchen und Wäschereien, die Reinigungs- und die Technikkräfte. Insgesamt müssten, so das Ergebnis, in den deutschen Kliniken rund 162.000 Kräfte mehr eingestellt werden. Allein im Krankenhaus Sulzbach im Saarland kam beim Testlauf heraus, dass 146 Beschäftigte fehlten, um alle Qualitätsstandards gewährleisten zu können. Eine Stations-leiterin dort antwortete zum Beispiel: "Als ich 1999 hier angefangen habe, waren wir morgens mit acht Kolleginnen und Kollegen da. Heute sind es oft nur vier - obwohl die Arbeit mehr geworden ist."

Arbeitsbelastung hat jedes vertretbare Maß überschritten

Insgesamt wurden bei der von ver.di erhobenen Stichprobe bundesweit rund 3900 Krankenhausabteilungen erfasst, Beschäftigte, Personal-, Betriebsräte sowie Mitarbeitervertreter/innen zu Auslastung und Arbeitsbedingungen befragt. Vom Gesamtbedarf an zusätzlichen Vollzeitstellen entfielen 70.000 auf den Pflegesektor. 92.000 Stellen fehlen demnach in den Bereichen ärztlicher Dienst, Funktionsdienste, medizinisch-technischer Dienst, Service und Verwaltung. Dabei ist zu beachten, dass 82 Prozent des Personals in den bundesweit rund 2000 Krankenhäusern unmittelbar mit der Krankenversorgung befasst sind (siehe Grafik). "Der Wettbewerb der Krankenhäuser um immer geringeren Personaleinsatz und die niedrigste Fachkräftequote muss beendet werden", sagt ver.di-Bundesvorstandsmitglied Ellen Paschke. Die Arbeitsbelastung habe vielerorts jegliches vertretbare Maß überschritten. "Maßstab muss wieder das Wohlergehen der Patienten werden", so Ellen Paschke.

"Ich wünsche mir mal eine unangemeldete kassenärztliche Prüfung", sagt Sabine Jandke. Gerade erst hat wieder eine Krankenschwester von der Intensivstation eine Überlastungsanzeige gemacht, eine Stationsleitung hat aufgegeben und ist in den normalen Schichtdienst als Pflegekraft zurückgekehrt. "Sie wollte und konnte die Verantwortung für die Patientinnen und Patienten nicht mehr übernehmen", sagt Sabine Jandke. Weil überforderte Pflegekräfte irgendwann Fehler machen und nicht bei drei Patienten gleichzeitig sein können. So erhalten Säuglinge schon mal die zehnfach erhöhte Dosis eines Medikaments. Physiotherapeutische Behandlungen müssen gekürzt werden, weil die Verordnungen der Ärzte sonst gar nicht zu schaffen wären. Wie weit ist es dann bis zum Tod von Patienten, weil nachts nicht genug Personal im Dienst ist?

Der Druck muss raus

Die ver.di-Erhebung zur Personalausstattung ist bundesweit die erste ihrer Art. Bislang war der Arbeitskräftebedarf lediglich nach betriebswirtschaftlichen Kriterien bemessen worden, nicht aber nach Kriterien wie Arbeitsauslastung, Arbeitsbedingungen und Patientenwohlergehen. Ellen Paschke vom ver.di-Bundesvorstand fordert, dass die Krankenversorgung nicht an rein marktwirtschaftlichen Maßstäben gemessen werden dürfe. "Wer als Patient in der Notaufnahme liegt, hat als Marktteilnehmer keine Auswahl mehr." Und auch Sabine Jandke, die seit 28 Jahren im Vivantes Klinikum im Friedrichshain arbeitet, sagt: "Wer mit kranken Menschen Geld verdienen will, hat den falschen Beruf."

Ein OP-Pfleger hängt ein ver.difikat auf

Im Sulzbacher Krankenhaus gibt es derzeit 620 Arbeitsplätze. Die wurden auf einem "ver.difikat" mit dem Stempel "Dein Krankenhaus ist ver.di-geprüft" genauso dokumentiert wie die 146 fehlenden Kolleg/innen. Beurteilung: "Die Arbeitsbelastung ist unerträglich." Auch jede Station oder Abteilung hat ein solches ver.difikat bekommen - das Ergebnis war immer das gleiche. Und in allen anderen befragten Kliniken sieht es - wie sich nun zeigt - keinen Deut besser aus. Im Vivantes Klinikum haben im Laufe des 19. Februars drei Schichten ver.difikate aufgehängt. Und auch hier kam am Ende heraus, dass gut ein Viertel des jetzigen Personalstands noch einmal draufgesattelt werden müsste

Niko Stumpfögger, in der ver.di-Bundesverwaltung zuständig für Betriebs- und Branchenpolitik im Fachbereich Gesundheit, war in der zweiten Schicht beim Personalcheck im Vivantes Klinikum dabei. Ihm ist eins besonders aufgefallen: "Niemand hat Wolkenkuckucksheime gefordert, alle haben ernsthaft überlegt, wie viele sie tatsächlich sein müssten." Erschreckt hat ihn, wie sehr der Stress bei Krankheitsausfällen, die die Regel sind, steigt. Chronisch unterbesetzt und überlastet, so muss am Ende die Diagnose lauten. Nicht zuletzt deshalb hat ver.di bereits im Frühjahr 2011 die Kampagne "Der Druck muss raus" gestartet. Und erhöht jetzt mit den aktuellen Zahlen den Druck auf die Geschäftsführungen der Krankenhäuser und auf die Politik. Die Beschäftigten und ver.di fordern nicht weniger als einen Gesundheitsschutz, eine gesetzliche Personalbemessung und mehr Geld für die Kliniken. Weil Arbeit nicht krank machen darf, und nur mit genug Personal auch gute Arbeit möglich ist.

Der kurze ver.di-Personalcheck

Bei einer ver.di-Befragung in bundesweit 200 Kliniken zur Arbeitssituation aller Beschäftigten in Deutschlands Krankenhäusern wurde festgestellt, dass insgesamt 162.000 Stellen fehlen. Fokus der Befragung war allein die Qualität der Arbeit, betriebswirtschaftliche Faktoren spielten keine Rolle. In Baden-Württemberg sind allein 21.000 zusätzliche Kräfte vor allem in der Pflege nötig, um eine gute Krankenversorgung zu erreichen. In Nordrhein-Westfalen wurde ein zusätzlicher Personalbedarf von 38.000 Menschen festgestellt. Dort sieht der Krankenhausplan der Landesregierung für 2015 hingegen einen Abbau von 10.000 Betten in den Landeskrankenhäuern vor. ver.di befürchtet betriebsbedingte Kündigungen, wo tatsächlich mehr Betten und mehr Personal nötig wären.

https://gesundheit-soziales.verdi.de

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