Am 12. Juni auf dem Taksim

von Jürgen Gottschlich

"Wie immer das hier ausgeht", sagt Hülya, nachdem sie bereits mehrere Nächte in Istanbul im Gezi-Park aus- geharrt hat, "die türkische Gesellschaft wird sich verändern. Wir haben gezeigt, dass wir mitreden wollen."

Von Ende Mai bis Mitte Juni erlebt die Türkei eine Protestbewegung, wie es sie so in diesem Land noch nicht gegeben hat. Sie entstand spontan, ihre Aktivisten waren nicht organisiert, sie brachte die unterschiedlichsten Gruppen zusammen. Die Mehrheit der Besetzer des Gezi-Parks waren junge Leute, darunter sehr viele Frauen, aus der urbanen, säkularen Mittelschicht. Doch im Laufe von drei Wochen schlossen sich viele verschiedene Gruppen und politisch unterschiedlich denkende Menschen an. Sie alle eint ein Anliegen: Sie wollen mit ihren Forderungen von der immer autoritärer und islamischer agierenden türkischen Regierung und ihrem Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan ernst genommen werden. Sie wollen selbst entscheiden, wie sie leben.

Zunächst ging es nur um einen Park im Zentrum von Istanbul, der durch die Replik einer historischen osmanischen Kaserne ersetzt werden sollte, mit einem Einkaufszentrum hinter der Fassade. Nun ist Istanbul in den letzten zehn Jahren mit Shopping Malls zugepflastert worden, weshalb kaum jemand einsieht, dass deswegen die letzten Bäume im Zentrum gefällt werden sollen. Erdogan sah jedoch keinen Grund, sich mit den Einwänden auseinanderzusetzen. Er schickte die Polizei, die den Park räumen sollte. Doch am nächsten Tag waren schon tausende Istanbuler im Park. Jetzt machte die Regierung einen entscheidenden Fehler: Erdogan setzte erneut auf Gewalt. Wiederum erschien die Polizei, dieses Mal mit Wasserwerfern und den Antiaufstandsbrigaden, und knüppelte alle nieder, die sich ihr in den Weg stellten. Die Prügelorgie löste einen landesweiten Aufschrei aus. Aus Tausenden wurden Hunderttausende, die auch in Ankara, Izmir und 50 weiteren Städten auf die Straße gingen. Rund um den Taksim-Platz spielten sich Szenen wie im Bürgerkrieg ab. Die Polizei setzte so viel Tränengas ein, dass das Stadtzentrum ohne Gasmaske kaum begehbar war. Ohne Erfolg. Wo sie eine Gruppe zurückschlug, kamen neue Demonstranten nach. In der ersten Protestwoche gab es drei Tote, zwei Demonstranten und ein Polizist, mehr als 4000 Verletzte und tausende vorläufig Festgenommene, von denen die meisten aber wieder freigelassen wurden.

Unter Tränengas: der Taksim-Platz in der Nacht vom 11. zum 12. Juni

Zu Beginn der zweiten Woche der Proteste schlossen sich zwei große Gewerkschaftsverbände, die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes (KESK) und der linke Gewerkschaftsdachverband DISK, den Protesten an. Lamy Özgen, Vorsitzender der Konföderation der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, kündigte im Fernsehen an, seine Gewerkschaft werde am 5. Juni einen Solidaritätsstreik mit den Besetzern des Platzes beginnen. Die autoritäre Haltung der Regierung, insbesondere von Ministerpräsident Erdogan, mache es notwendig, dass die Arbeiter und Angestellten des öffentlichen Dienstes sich mit den Student/ innen und anderen Protestierenden verbünden. "Die Gesellschaft braucht mehr Demokratie statt der Herrschaft des einen Mannes", sagte Özgen.

Gewerkschaften schließen sich den Protesten an

In der Gewerkschaft hatte man auf das Signal offenbar gewartet. Lehrer, Angestellte des Gesundheitsdienstes und Arbeiter aus der Stadtverwaltung füllten zu Tausenden den Taksim-Platz. Nach den heftigen Straßenschlachten in der ersten Woche hatte die Regierung am 1. Juni den Platz und den angrenzenden Gezi-Park zunächst den Besetzer/innen überlassen. Als die Gewerkschafter/innen der KESK am 5. Juni auf den Platz strömten, wurden sie von tausenden Protestlern mit Beifall empfangen.

Noch am selben Tag entschied sich der linke Gewerkschaftsdachverband DISK ebenfalls dafür, seine Mitglieder zu einem Solidaritätsstreik aufzurufen, woraufhin auch tausende Textilarbeiter/innen und Metaller auf die Straße gingen.

Der Taksim-Platz als Symbol der Freiheit

Noch am 1. Mai hatte man den Mitgliedern von DISK und anderen Gewerkschaften mit Gewalt verwehrt, ihre Kundgebung am Taksim-Platz abzuhalten. Dabei hat der Platz für die türkische Gewerkschaftsbewegung einen hohen symbolischen Wert, seit 1977 Rechtsradikale mit Unterstützung der Polizei von umliegenden Dächern auf die damalige Mai-Kundgebung geschossen und 35 Menschen getötet haben. Nachdem die Regierung Erdogan vor drei Jahren nach heftigen Auseinandersetzungen zähneknirschend zugestimmt hatte, dass der Taksim-Platz für MaiDemonstrationen wieder geöffnet wird, waren sie plötzlich in diesem Jahr wieder verboten. Mehr als zehntausend Gewerkschafter/innen folgten am 6. Juni auch deshalb in Istanbul dem Aufruf zum Solidaritätsstreik mit den Besetzer/innen des Platzes. Auch in anderen Städten gingen DISK- und KESK-Mitglieder auf die Straße. Für die Besetzer von Gezi-Park und Taksim-Platz war das das Signal: Sie werden von großen Teilen der Gesellschaft unterstützt.

Doch die neue Freiheit auf dem Platz dauerte nur wenige Tage. Im Morgengrauen des 11. Juni kam erneut die Polizei, um den Platz zu räumen. Es folgten 24 Stunden schlimmster Polizeigewalt. Einen Tag und eine Nacht dauerte "die Schlacht um den Taksim", dann hatte die Polizei den Platz geräumt. Im Gezi-Park halten Mitte Juni trotzdem Besetzer/innen durch. Die Regierung kündigt ein Referendum über den Park an, droht gleichzeitig mit der Polizei: Man werde Anarchie nicht länger dulden.