Noch bevor der Prozess überhaupt begonnen hatte, zeigte die Staatsgewalt bereits, was sie von gewerkschaftlichem Engagement hält. Spezialtruppen der Polizei in Kampfmontur und Gasmasken gingen gegen eine Gruppe Gewerkschafter vor, die im Eingangsbereich des neuen Gerichtsgebäudes in Istanbul mit Transparenten und Sprechchören gegen die seit knapp einem Jahr andauernde Untersuchungshaft von 27 ihrer Kollegen protestieren wollten. Es hagelte Schläge mit dem Gummiknüppel, und bevor die letzten Protestierenden verschwinden konnten, setzte die Polizei auch Tränengas ein.

Doch so dramatisch diese Szenen aussahen, so gelassen blieben die meisten Kollegen vor dem Gerichtssaal. "Wir sind Schlimmeres gewohnt", sagte Osman Caglayan, einer der Angeklagten, der auf freiem Fuß ist. "Nur weil wir für unsere Rechte kämpfen, erklären sie uns zu Terroristen." Caglayan ist Lehrer und Mitglied der Lehrergewerkschaft Egitim Sen, die Teil der Gewerkschaftsföderation KESK (Kamu Emekcileri Sendikalari Konfederasyonu) ist. Er gehört zu den insgesamt 56 Angeklagten, die am 23. Januar vor Gericht standen. Anders als die 27 Kollegen, die im Gefängnis sitzen, hatte er noch Glück; er musste nicht ins Untersuchungsgefängnis, in dem die 27 schon seit elf Monaten festgehalten wurden, bevor der Prozess endlich begann.

Nicht beweisbare Vorwürfe

Die Vorwürfe gegen die Angeklagten sind hart und schwer nachvollziehbar. Allesamt sollen sie Mitglieder einer terroristischen Vereinigung sein oder zumindest Propaganda für eine Terrorgruppe betrieben haben. Es geht um die DHKP/C, einen Zusammenschluss, dessen Wurzeln sich in den frühen 1970er Jahren verlieren. Der Gruppe werden diverse Attentate auf Politiker, Beamte und Geschäftsleute vorgeworfen. Zuletzt rückte die DHKP/C vor 15 Jahren in den Fokus der Öffentlichkeit, als sie in mehreren Gefängnissen in der Türkei in einen Hungerstreik gegen Isolationshaft trat, bei dem es mehrere Tote gab. Danach wurde es ruhig um die Gruppe, deren bekannte Mitglieder längst im Ausland leben, bis es vor einem Jahr einen Bombenanschlag auf die US-Botschaft in Ankara gab, zu dem sich die DHKP/C schriftlich bekannte.

Was die Lehrergewerkschaft damit zu tun haben soll, ist nicht nur den Angeklagten unklar, auch die Staatsanwaltschaft kann keine Beweise für eine Zusammenarbeit vorlegen. Was sie ins Feld führt, sind gewerkschaftliche Aktivitäten von Menschen, die sich selbst als links und sozialistisch beschreiben. Die Staatsanwaltschaft behilft sich in der Anklage mit einem Trick, der schon in einem anderen Zusammenhang gegen Aktivisten der KESK angewandt wurde. Die Angeklagten sollen innerhalb der Gruppe eine geheime Organisation gegründet haben, die für die DHKP/C arbeitet. Aus gemeinsamen Ferienaufenthalten werden dann konspirative Treffen und aus Nachhilfeunterricht in sozialen Brennpunkten Aktivitäten zur Rekrutierung von terroristischem Nachwuchs.

Dieses Muster ist nicht neu. Im April 2013 fand in Ankara bereits der Auftakt zu einem anderen Prozess gegen Mitglieder der KESK statt, denen ebenfalls vorgeworfen wird, sie hätten eine Geheimorganisation innerhalb der Gewerkschaft gegründet, angeblich zur Unterstützung der kurdischen "Terrororganisation" PKK (ver.di publik 3/2013). Zu den Angeklagten in diesem Prozess gehört auch der Vorsitzende der KESK, Lami Özgen.

Insgesamt wurden in den letzten beiden Jahren 400 Mitglieder oder Funktionäre der linken Gewerkschaftsföderation KESK verhaftet. Viele von ihnen waren oder sind noch in Haft. Auf die Frage, wie es in seinem Verfahren aussieht, antwortete der Vorsitzende der KESK, Lami Özgen, in Istanbul: "In welchem meiner vielen Verfahren?" Er steht in mehreren Verfahren vor Gericht, die wie der Prozess von April 2013 alle noch nicht abgeschlossen sind.

Internationale Unterstützung

Zur Freude der türkischen Kollegen waren in Istanbul, wie auch im vorigen Jahr in Ankara, zahlreiche Beobachter europäischer Gewerkschaften präsent. "Das nötigt das Gericht wenigstens zu einem Minimum an Fairness", sagte Asli Aydin, die hauptamtlich für KESK arbeitet, über die internationale Solidarität. Tatsächlich schien das Gericht von den zahlreichen ausländischen Gästen beeindruckt. Nach drei langen Verhandlungstagen wurden 24 der 27 Untersuchungshäftlinge auf freien Fuß gesetzt. Damit ist die Anklage zwar nicht vom Tisch, aber bis auf die drei letzten Inhaftierten können die anderen ihre Verteidigung wenigstens aus der Freiheit betreiben. Der Prozess soll im Mai fortgesetzt werden.

Jürgen Gottschlich