Ginge es nach der CDU/CSU und den Zeitungsverlegern, würden die 300.000 Zeitungszusteller/ innen in Deutschland vom gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde ausgeschlossen. Auf Tour mit einem Zusteller, der das ganz anders sieht

von Heide Platen

Wie ein roter Blitz im trüben, gelblichen Licht der Straßenbeleuchtung. Hans-Dietmar Hölscher (63), genannt Didi, geht auf Tour in der nächtlichen Altstadt von Bielefeld. Der Zeitungszusteller ist unterwegs, wenn alle anderen noch schlafen. Er kenne, sagt er, alle Briefkästen im Viertel rund um das Rathaus, "nicht aber die Menschen, die dahinter stecken". Manchmal trifft er einige, wenn sie zu lange gefeiert haben und auf dem Heimweg sind.

Im dunklen Schatten der Nicolaikirche am Ende der Niedernstraße stapeln sich um drei Uhr nachts vor dem Verlagsgebäude der Neuen Westfälischen (NW) die Zeitungsballen, liegen mehr oder minder vorsortiert für die Zusteller bereit. Die Firma, Neue Westfälische Logistik (NWL), eine Tochtergesellschaft der NW, liefert auch das konkurrierende zweite Lokalblatt, das Westfalen-Blatt, und etliche überregionale Zeitungen aus, täglich insgesamt über 140.000 Exemplare, rund 1200 Zusteller/innen sind unterwegs.

Didi Hölscher belädt seinen Wagen und fährt nur eine Straße weiter. Das erste Exemplar bekommt ein Dauergast in einem Hotel neben dem Rathaus, dann eine Gaststätte und eine Bank. Um die Ecke füllt er die Briefkästen eines Seniorenstifts. Dort parkt Hölscher und packt die beiden Stofftaschen seines Handkarrens voll, rund 40 bis 60 Kilogramm Papier täglich. Die restliche Runde durch seinen Bezirk 01086, Tour 1141, flitzt er zu Fuß, oft lange Strecken für eine Lieferung, dann wieder hin und her, kreuz und quer über die Gassen, in finstere Hinterhöfe, Toreinfahrten, Treppen hoch und runter. Als ein Bewegungsmelder reagiert und eine ganz besonders stockdunkle Einfahrt fast taghell erleuchtet, strahlt auch Didi Hölscher: "Hier wohnt ein ganz besonders netter Kunde."

Hölschers Tempo ist atemberaubend

Die Widrigkeiten seines Berufs sind für Außenstehende oft kaum zu erkennen. Architekten, die Türen planen, bei denen die Briefschlitze unten, kaum über dem Fußboden sitzen, möchte er für diesen anstrengenden Kniefall am liebsten im Namen aller Zusteller wegen Ignoranz bestrafen. Einige Eingänge weiter hat sich jemand Postkästen ausgedacht, die er nur auf Zehenspitzen, die Hände hoch über dem Kopf, erreichen kann: "Und dabei bin ich 1,78 groß." Hölschers Tempo ist atemberaubend. Die NWL schreibt ein enges Zeitfenster vor. Bis sechs Uhr morgens müssen alle Kunden versorgt sein.

Das aber ist nicht der einzige Grund für seine Eile. Er braucht noch ein paar Stunden Schlaf, einen schnellen Kaffee nur, dazu die Lektüre der Zeitungen, der sogenannten "Botenexemplare", kostenloses Deputat für Zusteller/innen. Das ist für ihn eine Erholungspause, aber auch die Kontrolle. Wenn am Ende der Tour nur die übrig sind, hat er alles richtig abgeliefert. Fehler und Reklamationen werden ihm am nächsten Tag auf dem Begleitzettel mitgeteilt, der auch alle Änderungen der Zustellung auflistet. Und die sind vielfältig: "Ich finde, dass Zustellung richtig kompliziert geworden ist." Die Verlage bedienen Abonnenten ganz nach Wunsch: bitte nur Montag, Mittwoch, Samstag, nur Montag bis Freitag oder Montag bis Mittwoch, Samstag, Änderungen täglich vorbehalten.

Hölscher plant seine Runde wie ein Generalstabschef, rechnet in Minuten und Metern den optimalen Weg aus: "Ich habe die Zeiten selber gestoppt." Dabei habe er eigentlich eine ganz angenehme Tour. Andere Zusteller treffen es schlechter, auf dem Land zum Beispiel mit richtig langen Wegen bergauf, bergab. Von der Witterung einmal gar nicht zu reden. Auch in Sturm und Regen dürfen die Zeitungen nicht nass werden. Im Winter, bei Schnee und Glatteis, ist um diese Uhrzeit weder geräumt noch gestreut. Dunkle Wege und vereiste Treppen werden zur Lebensgefahr. Ein alter Kollege habe ihm am Anfang, vor gut neun Jahren, gesagt, er erkenne gute Zusteller sofort: "Wenn du den ersten Winter überstehst, dann schaffst du es."

Die Angst läuft immer mit

Aber immer öfter läuft auch die Angst mit. Die Aggression auf den Straßen ist gestiegen. Nächtliche Angriffe von randalierenden Jugendlichen und Betrunkenen sind nicht selten. Auch Hölscher, wenige Nächte zuvor angepöbelt und bestohlen - "Die wollten einfach eine Zeitung erobern" -, lauscht nachts auf Schritte und Stimmen: "Ich arbeite auch nach Gehör und merke sofort, wie die drauf sind." Einmal sei ihm "die Karre weggetreten" worden, einer der Täter habe das mit dem Handy gefilmt und sich gefreut: "Das muss ich gleich ins Netz stellen." Der Stress ist groß, der Krankenstand hoch, die Fluktuation ebenfalls. Die NWL wirbt neue Zusteller mit dem Slogan: "Bewegung an der frischen Luft hält fit."

Nach ein paar Stunden Schlaf, um zehn Uhr vormittags, beginnt Hölschers zweiter Job, eine Halbtagsstelle als Fraktionsgeschäftsführer der Linken im Bielefelder Rathaus: "Dann bin ich immer schon gut informiert." Geschlafen wird dann wieder von 22 bis 2 Uhr 30: "Ohne Disziplin geht das gar nicht." Der gelernte Schriftsetzer stammt aus einer Textilarbeiterfamilie. Erst nach der Lehre machte er das Abitur, studierte an der Pädagogischen Hochschule und kehrte nach dem 1. Staatsexamen in seinen alten Beruf zurück. Nach 23 Jahren meldete die Druckerei Konkurs an. Er war arbeitslos, belegte Qualifikationslehrgänge, schrieb Bewerbungen ohne Ende. "Aber mit 51 Jahren war ich zu alt." Didi Hölscher ist ein optimistischer Mensch, daheim sitzen und jammern nicht seine Art. Dass er einmal als Zeitungszusteller unterwegs sein würde, das habe er sich allerdings "vor 30 Jahren auch nicht träumen lassen": "Ich bin der klassische Facharbeiter, der nach unten durchgereicht wurde." Obwohl seine Frau als Lehrerin arbeite, reiche das Geld für die Familie mit zwei studierenden Töchtern sonst nicht aus.

Hölscher, Gewerkschafter schon vom Elternhaus her und aktiv bei ver.di, engagierte sich auch bei der NWL, wurde in den Betriebsrat gewählt und außerdem in den Konzern-Betriebsrat delegiert. Die Arbeit sei bei einem Organisationsgrad von "nur zwölf Prozent" manchmal mühselig. Hölscher ging sie die letzten Wochen mit besonderer Vehemenz an. Wo er geht und steht, erklärt er den Kollegen, so verständlich wie temperamentvoll, warum und wofür sie sich einsetzen sollen. Die Betriebsratswahlen Anfang März gewann seine Liste "Für soziale Gerechtigkeit" mit großer Mehrheit. Die Forderungen bleiben: Aufnehmen von Verhandlungen zum Tarifvertrag, über Lohnerhöhungen, Angleichung alter und neuer Verträge, gerechte Bezahlung von Wartezeiten und Zuschlägen für alle.

Drei Euro die Stunde - keine Seltenheit

Die NW gehört zu 57,5 Prozent der Deutschen Druck- und Verlagsgesellschaft mbH (ddvg), einem Medienunternehmen der SPD. Deshalb fuchst die derzeitige Debatte der großen Berliner Koalition über Ausnahmeregelungen bei der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns Didi Hölscher ganz besonders. Rund 300.000 Zusteller/innen gibt es in Deutschland, der Lohn variiert zwischen drei und acht Euro pro Stunde. Auf den geplanten Mindestlohn von 8,50 Euro kommen sie selten. 2013 lagen die von ver.di errechneten Durchschnittswerte bei einem Bruttostundenlohn von 7,79 Euro zuzüglich unterschiedlich hoher steuerfreier Nachtzuschläge, Ausgleich für lange Wege und Entgelt für Wartezeiten, wenn die Zeitungen nicht pünktlich am Abhol-Ort stehen. Auch die Bezahlung der Hilfsmittel - Taschenlampen, Batterien, Spikes für Schuhe, Reflektoren, Alarmgeräte, Kleidung - ist nicht einheitlich geregelt. Dabei seien die Kolleg/innen im Westen noch erheblich besser dran. In den Zustellbetrieben in den neuen Bundesländern seien Löhne zwischen drei und fünf Euro keine Seltenheit.

Und der Ungerechtigkeiten gibt es auch sonst viele. Das gilt für die ungleiche Bezahlung für Zusteller/innen mit neuen und alten Verträgen. Die Neueingestellten nennt Hölscher "Zusteller 2. Klasse". Er gehört dazu. Er bekommt 20 Prozent weniger Geld und zwei Wochen weniger Urlaub. Der Betriebsrat kämpfe außerdem gegen die unterschiedliche Erstattung des Kilometergeldes und die Anschaffung unzulänglicher Regenjacken, billig und nicht atmungsaktiv. Hölscher: "Da bist du nach einer Stunde völlig nass geschwitzt."

Die Abo-Preise bei der NW sind seit 2003 jedes Jahr um mehrere Prozente erhöht worden. Begründung: steigende Zustellkosten. Die Zusteller/innen gingen jedoch meist leer aus. Sie sind, so Hölschers Fazit, im Konzern insgesamt "Mitarbeiter zweiter Klasse".

Da schmerzt es besonders, wenn der neue CDU-Generalsekretär Peter Tauber die Kompromissbereitschaft der großen Koalition lobt: "Und dazu gehört, dass wir über Ausnahmen beispielsweise bei Erntehelfern oder Zeitungsausträgern in der Gesetzgebung sprechen müssen." Der Bundesverband der Zeitungsverleger sah gar eine Einmischung des Staates in das Grundrecht der Pressefreiheit und drohte, dass bei Einführung des Mindestlohnes die Zustellung im ländlichen Raum gänzlich eingestellt werden könnte. Hölscher kommentiert das mit dem Sch...wort: "Wenn ich das höre, könnte ich meine gute, ostwestfälische Erziehung vergessen."

Nicht nur ein Nebenjob

Zusteller, das sei, sagt Hölscher, keinesfalls so ein Nebenbei-Job für Hausfrauen und Studenten. Er ist mit seinen 63 Jahren bei weitem nicht der Älteste. Viele Rentner sind dabei, die erst mit 65 Jahren anfangen, weil sie mit ihrem Geld sonst nicht über die Runden kämen, viele, die auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelt werden, viele, die zwei oder drei Jobs haben, weil einer allein zum Leben nicht ausreicht. Geringfügige Gehaltserhöhungen habe es, obwohl der Konzern seine Abo-Preise kontinuierlich erhöht habe, so Hölscher, in den letzten zehn Jahren nur zweimal gegeben. Die Zusteller/innen werden bisher nach Stückzahl entlohnt. Bei sinkenden Abo-Zahlen werde zwar der Bezirk nicht kleiner, die Laufarbeit nicht weniger, wohl aber der Verdienst: "Wir tragen das volle unternehmerische Risiko."

Ungerechtigkeiten gibt es auch bei der Kilometerpauschale für Autofahrer. Sie werde, das habe eine Umfrage des Betriebsrates ergeben, je nach Verhandlungsgeschick der einzelnen Zusteller "nach Gutsherrenart" individuell bezahlt, sei aber generell zu niedrig. Dazu kommen kleine Widrigkeiten und Schikanen wie die Regenjacken. Dabei ist die Firma auf einen reibungslosen Vertrieb angewiesen. Das immerhin, lobt auch Hölscher, klappe bei der NWL recht gut. Es gibt außer den regulären Zusteller/innen Reklamationszusteller, die gestohlene Exemplare, manchmal auch ganze Bündel ersetzen, und sogenannte Feuerwehrboten, die bei Ausfällen einspringen. Der logistische Aufwand aber dürfe nicht zu Lasten der Zusteller, dem letzten Glied in der Kette, finanziert werden.

Auf seiner Runde beweist Hölscher immer wieder Kreativität und Einsatz. Da ist das schmiedeeiserne Gittertor vor dem schmucken Altstadthaus, immer abgeschlossen, kein Briefkasten außen. Hölscher klemmt die Zeitung regengeschützt zwischen Tor und Mauer unter einen Sims. Die Studentenkneipe, deren Inhaber es trotz etlicher Bitten noch immer nicht geschafft haben, einen Briefkasten aufzuhängen, betrachtet er schon fast gnädig. Er schiebt die Lieferung mühselig unter der Türritze hindurch. Auch die wird also beim nächsten Unwetter trocken bleiben. Oft ist Zeitungsklau der Grund für Reklamationen. Deshalb geht es gar nicht, Zeitungen einfach so einzuwerfen, "stecken" heißt das in der Zustellersprache, dass sie von außen zu sehen sind. Sie müssen korrekt "durchgesteckt" werden.

Weihnachtstüte mit Almosen

Das ist bei schmalen Schlitzen schwierige Fummelarbeit, vor allem bei den Wochenendausgaben, die, zusätzlich vollgepackt mit Prospekten, nicht nur viel dicker sind als sonst in der Woche, sondern natürlich auch erheblich schwerer. Die Tätigkeit, Blätter passend zu machen, ohne sie zu beschädigen, war die Inspiration für den Namen der Gewerkschaftszeitung "Nachtfalter", bei der Hölscher mitarbeitet. Der Nachtfalter zitiert die ddvg, um sie zu strafen. Auf deren Homepage stehe: "Die ddvg ist der Tradition der sozialdemokratischen Unternehmungen verpflichtet." Sie orientiere sich zwar "streng" an der Wirtschaftlichkeit, ohne aber "dabei die sozialen Verpflichtungen unternehmerischen Handelns zu ignorieren". Geblieben sei davon in der traditionsreichen Geschichte des Verlages bei der NWL wenig, und da ist Hölscher, sonst trotz aller Widrigkeiten meist guter Laune, etwas bitter. Es fehle an "Wertschätzung", wie es sie zum Beispiel bei den auch längst gestrichenen jährlichen Zustellerfesten noch gab. Die obligatorische Weihnachtstüte werde inzwischen von vielen nur noch als Almosen empfunden: "Etwas mehr als die 40 Prozent Weihnachtsgeld oder ein angemessener Tariflohn wären uns lieber."

Kopfzerbrechen bereitet den Zusteller/innen auch das neue elektronische Zustellprogramm Sabris, das Wege aus der Luft kartographiert und Strecken und ganze Bezirke optimieren oder ganz neu organisieren soll, damit der Stundenlohn von 8,50 Euro erreicht werde. Die Zusteller/innen fürchten, dass durch diese Rationalisierungsmaßnahme nur eine Umverteilung zu ihren Ungunsten erreicht werden wird. Der Einzelne muss noch mehr Zeitungen zustellen. Sinkende Abozahlen werden nicht berücksichtigt. Hölscher: "Wir wissen noch nicht so genau, was die Verlage damit erreichen wollen." Er jedenfalls laufe gewiss "keine unnötigen Strecken". "Eigentlich", sagt er nach der rasanten Tour dieser Nacht, "brauchen wir eine öffentliche Debatte über Entschleunigung".

"Ich bin der klassische Facharbeiter, der nach unten durchgereicht wurde"