Ausgabe 03/2014
Ein Liebeslied im Todestrakt
Der US-amerikanische Journalist und Freiheitskämpfer wird 60, frei ist er immer noch nicht. Seit 1981 hält ihn die US-Justiz nun schon gefangen. Nach 30 Jahren in der Todeszelle erwartet den unter mehr als zweifelhaften Umständen Verurteilten inzwischen Haft bis an sein Lebensende. Höchste Zeit, die weltweiten Proteste wieder aufzunehmen. Ein Plädoyer von Rolf Becker
Mumia Abu-Jamal 2001 in seiner Todeszelle
Viele von uns haben sich bis vor einigen Jahren an Appellen, Protesten und Demonstrationen gegen die Verurteilung Mumia Abu-Jamals beteiligt - getragen von Gewerkschaften, kommunalen Parlamenten, Parteien und anderen politischen Organisationen, kirchlichen Initiativen, Amnesty International und Human Rights Watch, PEN, Musikgruppen und zahlreichen Einzelpersönlichkeiten.
Unterdessen ist es still um Mumia geworden, vor allem hierzulande, seit er aufgrund gerichtlicher Entscheidungen 2010 und 2011 aus dem Todestrakt in ein "normales" Gefängnis verlegt, die Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt wurde. Bewährungsmöglichkeiten und vorzeitige Freilassung sind ausgeschlossen - "slow death row", wie er es nennt. Ist es ein Grund, den Widerstand gegen das Unrecht aufzugeben, weil ihm die Hinrichtung nicht mehr droht?
Weltweite Proteste
Lebenslang heißt für Mumia tatsächlich lebenslang, Haft bis zum Tod in der Zelle. Es sei denn - und damit nehme ich vorweg, was ich mir von diesem Beitrag erhoffe - es sei denn, wir nehmen die Proteste wieder auf, die entscheidend dazu beigetragen haben, dass er, wenn auch in Haft, noch am Leben ist: 1995 und 1999 wurde die Vollstreckung seiner Hinrichtung aufgrund neuer Anträge seiner Verteidigung, vor allem aber wegen der weltweiten Proteste und Demonstrationen ausgesetzt.
Was genau am späten Abend jenes 9. Dezember 1981 in Philadelphia geschah, ist bis heute nicht geklärt. Widersprüchliche und widerrufene, aus Angst vor der Polizei zustande gekommene Zeugenaussagen, Missachtung zahlreicher Hinweise, die Mumia entlasteten und auf einen anderen Täter hinwiesen, eine fragwürdig zusammengesetzte Jury und ein Richter namens Sabo, der den Geschworenen vor ihrer Entscheidung versicherte: "Yeah, and I'm going to help them fry the nigger" (Ich werde ihnen dabei helfen, diesen Nigger zu grillen).
Folgerichtig wurde Mumia Abu-Jamal am 3. Juli 1982 von der Jury einstimmig des Mordes an dem Polizisten Daniel Faulkner für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Die Verteidiger/innen von Mumia - bis 2001 Leonard Weinglass, bis 2010 Robert R. Bryan, seit 2011 Christina Swarns und Judith Ritter sowie Rachel Wolkenstein, die nur für seine Haftbetreuung zuständig ist - bemühten sich seitdem vergeblich, ein neues Verfahren durchzusetzen und den Schuldspruch wegen der rassistischen Verhandlungsführung als Verstoß gegen die US-Verfassung und internationale Menschenrechtsgarantien aufheben zu lassen. Die juristischen Möglichkeiten der Anfechtung des Urteils sind seit der Umwandlung der Todesstrafe in lebenslange Haft extrem eingeengt: Zwar wurde das Todesurteil wegen rechtsfehlerhafter Belehrungen der Geschworenen im Prozess 1982 als verfassungswidrig aufgehoben; der Oberste Gerichtshof der USA hatte jedoch zuvor schon die Verurteilung wegen Mordes für rechtskräftig erklärt, so dass nur die Umwandlung der Strafe in Frage kam.
Um zu verstehen, warum Mumia Abu-Jamals Verurteilung zum weltweit umstrittenen "Fall Mumia" werden konnte, hilft vielleicht ein kurzer Blick in seine Vorgeschichte. Am 24. April 1954 wurde Mumia als Wesley Cook in Philadelphia geboren, in einer der "Sozialsiedlungen, wo die armen Kinder wohnen". Auf Mumia wurde er "getauft" von einem kenianischen Lehrer, der seine Schüler mit afrikanischen Namen anredete. Er erweist sich als guter Schüler während seiner Grundschul- und Highschoolzeit, nichts deutet auf sein späteres Engagement hin - bis zu einem Ereignis, das sein Biograf Terry Bisson so beschreibt: Mumia ist 14 Jahre alt, als er zusammen mit drei Freunden auf einer Wahlkampfveranstaltung gegen den US-Präsidentschaftskandidaten Wallace demonstriert, der "Rassentrennung für immer" fordert: "Hau ab, Nigger!" - die Jungen wurden getreten und geschlagen. So verfielen sie auf die alberne Idee, um Hilfe zu rufen: "Polizei!" Und die kam tatsächlich, verprügelte die Jungen ein weiteres Mal, und zwar mit Schlagstöcken und Latten, legten ihnen Handschellen an und waren so professionell, so engagiert bei der Arbeit, dass die Teenager auf dem Weg ins Gefängnis erst einmal ins Krankenhaus gebracht werden mussten. Mumia war enorm erleichtert, als er ein vertrautes Gesicht näherkommen sah: "Ma'am!" Sie eilte kopfschüttelnd vorbei. "Das ist nicht mein Junge", sagte sie. Er war so schlimm verprügelt worden, dass nicht einmal seine Mutter ihn wiedererkannte. Bei der Vernehmung hörte der Richter sich die Zeugenaussage des Polizisten an: "Tätlicher Angriff? Das Gesicht dieses Jungen hat Ihre Faust angegriffen? Verfahren eingestellt!" Es war die erste Tracht Prügel, die Mumia von der Polizei bezog, und die letzte Begegnung mit einem wohlwollenden Richter.
Rolf Becker ist Schauspieler, Synchronsprecher und engagierter Gewerkschafter in ver.di.
Stimme der Stimmlosen
Mumia schließt sich der Black Panther Party an, wird mit 15, im Sommer 1969, Mitarbeiter ihrer Zeitung. Auf seine Artikel wird bald auch das FBI aufmerksam. Dessen berüchtigter Chef J. Edgar Hoover ordnete "vertraulich" an: "Wir müssen der Negerjugend und den Gemäßigten klarmachen, dass sie, falls sie auf revolutionäre Lehren hereinfallen sollten, tote Revolutionäre sein werden." Mumias FBI-Akte schwillt mit detaillierten Berichten über jede Rede, jedes Telefongespräch, jede Konfrontation mit den Gesetzeshütern bald auf 700 Seiten an.
Häftlingsnummer AM 8335
"Stimme der Stimmlosen" wird er genannt wegen seiner zahlreichen Artikel und Radioreportagen vor seiner Verhaftung, weil er versucht, wo immer sich Gelegenheit dazu bietet, denen Gehör zu verschaffen, denen in unserer Gesellschaftsordnung die Mittel vorenthalten werden, sich zu äußern. Weder das Todesurteil noch die 30 Jahre Todeszelle haben Mumia zum Schweigen bringen können. In einem Kommentar zu einem Prozess wegen Misshandlung politischer Gefangener in den USA schreibt er: "Sie alle erfuhren, wie brüchig das System war, das ihnen die Freiheit genommen hatte, sie alle erfuhren, dass Begriffe wie Gerechtigkeit, Gesetz, Bürgerrechte und sogar Verbrechen dehnbar sind und unterschiedliche Bedeutung haben, immer abhängig davon, wessen Rechte verletzt werden, wer an wem welches Verbrechen begangen hat und ob man für oder gegen das System arbeitet. Für die Menschen, denen das Etikett ‚Gefangener' an die Brust geheftet ist, gibt es kein Gesetz, keine Gerechtigkeit, keine Bürgerrechte."
Am 6. September 2009 war ich bei Mumia: Mein erster Aufenthalt in einem Todestrakt. Wenn ich jetzt darüber schreibe, betrete ich ihn wie damals. Der Guantánamo-rote Overall mit der Häftlingsnummer AM 8335, in dem er mir hinter der Panzerglasscheibe gegenüberstand, bevor wir beide mit den Fäusten dagegentrommelten: als Zeremoniell der Begrüßung - die Vibration als Ersatz für den untersagten Körperkontakt. Als ich Mumia gegen Ende unseres Gesprächs fragte, ob ihm noch Zeit und innerlich Raum bleibt für das, was er vor seiner Verhaftung liebte, zum Beispiel an Musik oder Literatur, holte er zur Antwort aus der Hosentasche unter seinem Overall eine kleine Rolle Papiere hervor, zusammengehalten durch ein Gummiband, und daraus wieder einen beschriebenen Zettel, der Zeilenanordnung nach ein kleines Gedicht, trat damit nah an den perforierten Rahmen der Trennscheibe - eine Gegensprechanlage gab es nicht -, lehnte sich mit einer Schulter leicht an die Wand und begann zu singen. "A Sad Love Song" - für Wadiya, seine Frau - ein Liebeslied im Todestrakt.
Ich habe Mumia damals Grüße ausgerichtet von allen, die sich hierzulande gegen sein Todesurteil und für seine Freilassung einsetzten. Ich tue es heute auf diesem Weg, auch in Eurem Namen: No to slow death row!
"Ich kämpfe weiter gegen das ungerechte Urteil gegen mich. Vielleicht gelingt es uns ja, einige der gefährlichen Mythen zu zerstören, die unserem Denken übergestülpt worden sind - zum Beispiel der Mythos vom Recht auf ein nicht befangenes und unparteiisches Geschworenengericht mit Geschworenen aus unserer Mitte, der Mythos vom Recht, sich selbst zu verteidigen, oder gar der Mythos vom Recht auf einen fairen Prozess. All das sind nämlich nicht wirkliche Rechte, sondern Privilegien der Mächtigen und der Reichen. Für die Schwachen und Armen sind sie Seifenblasen, die zerplatzen, sobald man nach ihnen greift und sie als etwas Reales, Substantielles für sich in Anspruch nehmen will. Erwartet nicht, dass Euch die Medien hierüber informieren. Sie können es nicht, denn die Interessen von Medien und Regierung und auch von den Großkonzernen, in deren Dienst beide stehen, sind zu eng miteinander verflochten. Aber ich kann es. Und ich werde es tun, selbst wenn ich gezwungen bin, es aus dem Schattenreich des Todes heraus zu tun.“
Mumia Abu-Jamal aus seiner Todeszelle, Dezember 1994