Andrea Schroeder: Where The Wild Oceans End - Aus der leeren Fülle des Internets tauchte im Jahr 2012 eine Sängerin auf, die es in sich hatte: ein tiefes Gespür für nachtblaue Poesie und dunkel getönte Melodien, getragen von Sehnsucht, Heimweh, Fernweh. Umweht von einer geheimnisvollen Vergangenheit erschien Andrea Schroeder aus dem virtuellen Nirgendwo im realen Berlin. Mit dem Album Blackbird, das mit bittersüßen Songgedichten über die schattigen Seiten des Lebens schnell Furore gemacht hat.

Die mit dem Debüt angeheizten Erwartungen werden geradezu lässig erfüllt und übertroffen von der neuen Platte: Where The Wild Oceans End. Der Horizont hat sich noch einmal geweitet. Zu ozeanweiten Klanglandschaften, ruhig und sanft, stürmisch und rau, und endlos tief. Changierend zwischen Rock, Folk, Country, Chanson, blaunebeligem Soul-Touch und Gothic-R'n'B-Riffs. Bei den an der Atlantikküste Norwegens analog aufgenommenen zehn Songs unter der Produzenten-Regie von Chris Eckman (The Walkabouts) wird deutlich, dass der in hohen Tönen gepriesene Name Andrea Schroeder nicht nur für die Einzelperson der Songpoetin mit der dunklen Samtstimme steht, sondern auch für die eingeschworene Gemeinschaft einer exquisiten Band. Da ist kein Ton zu viel, keine Note zu wenig.

Die Arrangements sind angenehm sparsam, aber umso effektiver. Die Anfänge der Songs wirken wie gelungene erste Sätze eines Romans, mit denen die Stimmung gesetzt, Neugier geweckt wird, für das was kommt, was einen mitnimmt - auf jede Weise - reinzieht und ergreift. Düsterschöne englischsprachige Klanggedichte über tote Augen, endlose Liebe, Geister von Berlin, endende Sommer und Ozeane. Die treffliche Vertonung von The Rattlesnake, einem Gedicht des amerikanischen Beat-Poeten Charles Plymell, sowie eine umwerfende deutsch gesungene Version von David Bowies Heroes. Stets bleibt alles in wunderbar ausgewogener Balance zwischen Schwermut und Leichtigkeit, ätherischem Schweben und fester Verwurzelung. Drummer Chris Hughes findet immer die adäquate Dosis von filzigem Klöppeln und heftigem Knallen. Bassist Dave Allen verankert den Sound in abgründiger Tiefe. Catherine Graindorge streicht von einer variantenreichen Palette kräftige Violinenfarben ins Dunkel. Und Jesper Lehmkuhl trägt den Gesamtsound mit wechselnden Gitarren: vom klaren akustischen Nylonklang über verzerrte Gitarren zu elektrischem Sägen. Brillant. H.P. Daniels

CD, Glitterhouse Records


Chrissie Hynde: Stockholm - Chrissie Hynde musste 62 Jahre alt werden, um ihr erstes Solo-Album zu veröffentlichen. Nicht dass sie bis dahin bloß ein Hausfrauendasein gefristet hätte: Als Vorsitzende der Pretenders war sie das Glamour-Girl der New Wave der frühen Achtziger, mit UB40 und I Got You Babe hatte sie einen Nummer-Eins-Hit, sie sang ein Duett mit Frank Sinatra und betrieb ein veganes Spitzenrestaurant in ihrer Heimatstadt Akron in Ohio. Auf Stockholm präsentiert sich Hynde nun als gereifte Sängerin, die über entspannt hingerotztem Gitarrenrock das süße Nichts, dunkle Sonnenbrillen oder Underground-Comiczeichner besingt. Unterstützt wird sie dabei von noch älteren Kollegen (Neil Young), unerwarteten Gaststars (Ex-Tennisstar John McEnroe, der das Gitarrespielen von Eric Clapton und Eddie van Halen lernte) und vor allem jungen Kräften. Dass es die schwedische Popband Peter, Björn and John ist, die vor allem den Sound von Stockholm verantwortet, hört man: Hynde klingt modern, ohne sich dem Zeitgeist anzubiedern. Vor allem aber hat sie sich ihre grandiose Schnoddrigkeit bewahrt, während es ihr gleichzeitig gelingt, in großer Würde zu altern. Thomas Winkler

CD, Caroline International


Jack White: Lazaretto - Keine Angst, die Boxen sind noch in Ordnung. Das kracht und rumpelt, knackt und knistert zwar, aber da sind keine Stromkreise in der Heim-Elektronik durchgebrannt. Nein, es ist bloß Jack White, der mal wieder die Sau rauslässt. Lazaretto heißt das neueste Werk des Bluesrock-Schwerstarbeiters, aber in diesem "Seuchenkrankenhaus" geht es noch sehr fidel zu. Ob flotter Boogie in Just One Drink, akustischer Folk in Temporary Grounds, knackige Led-Zeppelin-Kopie in Three Women, knarzender Hardrock im Titelstück oder seltsamer Metal-Reggae in That Black Bat Licorice: White beweist, dass er die White Stripes und deren musikalische Einschränkungen längst weit hinter sich gelassen hat. Eins aber hat sich der mittlerweile 38-Jährige trotz seines großen kommerziellen Erfolgs auch für dieses zweite Solo-Album bewahrt: das Gespür, niemals poliert oder weichgespült zu klingen. Deshalb sind, wenn man Lazaretto einlegt, die Boxen dann doch wieder mal in akuter Gefahr. Thomas Winkler

CD, Third Man Records/XL Recordings


Quatuor Ébène: Brazil - Streichquartette jenseits klassischer Repertoire-Pfade haben ja derzeit Konjunktur. Das französische Quatuor Ébène ist dafür bekannt, dass es sich nicht auf die althergebrachte Rolle dieses Klangkörpers festnageln lässt. Im Jahr der Fußball-WM in Brasilien präsentiert es sich mit einer Brasil-CD, die auch genauso heißt: Brazil. Während andere im Vorfeld der Fußball-WM die immer gleichen Brasil-Klischees bedienen, beweist das französische Streichquartett seine ausgeprägte Individualität, wenn es darum geht, Bossa und Samba-Perlen neu zu polieren. Das geschieht nicht nur durch den flexiblen und rhythmisch versierten Streicher-Klang der Franzosen, sondern auch durch die Beteiligung von Könnern wie dem Chanson-Granden Bernard Lavilliers, der US-Jazz-Vokalistin Stacey Kent und dem Bossa-Altmeister Marcos Valle, dem das Genre seinen Welthit So Nice / SummerSamba aus dem Jahr 1966 verdankt. Wenn dann Mitte Juli der neue Fußball-Weltmeister feststeht und dessen Ruhm - wie gewohnt - nach der Rückkehr in den Alltag schon bald wieder verblasst ist, wird man an dieser Brasil-CD auch noch lange danach seine Freude haben. Peter Rixen

CD, Erato/Warner Music