TÜRKEI

Kostensenkung statt Arbeitssicherheit: Das haben 301 Bergleute am 13. Mai mit dem Leben bezahlt. Gewerkschaften, die sich für sichere Arbeitsplätze und bessere Löhne einsetzen, werden von der Regierung Erdogans als Wachstumsbremsen bekämpft

In Trauer um die Kumpels

von Jürgen Gottschlich

Über der Unglücksmine im türkischen Soma hängt bis heute ein großes Schild, das den Kumpels wie Hohn vorkommen muss: "Önce Is Güvenligi" (Arbeitssicherheit zuerst). Denn nicht erst nachdem mindestens 301 Bergleute bei dem schwersten Grubenunglück der Türkei am 13. Mai gestorben sind, schon lange davor war klar, dass die Sicherheit am Arbeitsplatz das Letzte ist, was die Minenbetreiber und die türkische Regierung interessiert.

Das zeigen zunächst einmal schon die nackten Zahlen. Laut der Internationalen Arbeitsorganisation ILO starben in türkischen Bergwerken in der Zeit von 2001 bis 2012 nach offiziellen Angaben 1 172 Kumpel, also mehr als 100 Bergleute jedes Jahr. Damit nimmt die Türkei in Europa den Spitzenplatz bei der Unfallstatistik ein, weltweit landet das Land auf dem drittschlechtesten Platz.

Was langsam ans Licht kommt

Auch in Soma starben bereits vor der Katastrophe am 13. Mai immer wieder Bergleute. Erst drei Wochen zuvor hatte die Regierung eine Initiative der Opposition, wegen der dauernden Unfälle in Soma eine Untersuchungskommssion einzurichten, abgelehnt. Jetzt kommt langsam ans Licht, dass die Soma-Mine, eine der ergiebigsten Braunkohleminen der Türkei, seit Jahren ein Dauerproblem hatte.

Wie Energieminister Taner Yildiz öffentlich einräumte, schwelt in Soma seit mindestens drei Jahren ein tief gelegener Braunkohleflöz vor sich hin. Die Betreiber haben versucht, diesen glimmenden Flöz mit einem Asche-Beton-Gemisch von der restlichen Mine abzutrennen, was ihnen offensichtlich nicht richtig gelungen ist. Dadurch hat sich die Kohlenmonoxyd-Gaskonzentration in der Mine ständig erhöht, weshalb letztlich ein Funken aus einem Trafo genügte, um das Inferno im Stollen auszulösen.

Eigentlich hätte man die Mine längst schließen müssen, doch Energieminister Yildiz erklärte in aller Offenheit, warum das nicht geschehen ist. "Der Großteil unseres Leistungsbilanzdefizits kommt aus dem Energiebereich", sagte er. "Wir können uns den Luxus, unsere Bergwerke zu schließen, nicht leisten". Was Yildiz sagen will, ist: Die Türkei muss für Öl- und Gasimporte aus Russland, Iran und Aserbaidschan so viel Geld ausgeben, dass der Staat sich hoch verschuldet hat und deshalb alles daran setzt, die heimischen Energiequellen maximal auszubeuten.

Kosten senken, Produktion rauf

Deshalb hat man viele Minen, darunter auch die in Soma, an Privatunternehmer verpachtet, die dann mit rüden Manchester-Kapitalismus-Methoden die Kosten senkten und die Produktion steigerten. Der Besitzer der Soma-Holding, Alp Gürkan, dessen Sohn den Betrieb seit 2005 führt, hatte sich noch vor zwei Jahren in einem Interview damit gebrüstet, die Kosten pro geförderter Tonne Kohle von 120 Dollar auf 25 Dollar gesenkt zu haben. Das ging nur, indem die Sicherheitsstandards reduziert wurden und außerdem tausende Leiharbeiter über Subunternehmen zum Einsatz kommen, die mit einem Niedrigstlohn von 250 Euro im Monat nach Hause geschickt werden. Seit der Privatisierung der Mine haben die Arbeitsunfälle in Soma laut der Minengewerkschaft Maden Is um das 13fache zugenommen. Jetzt fordert die Gewerkschaft, dass die Mine wieder verstaatlicht wird.

Billige Energie ist die Grundvoraussetzung für Wirtschaftswachstum, und jedes Wirtschaftswachstum hat seinen Preis. Für die Regierung Erdogan, die in den letzten zehn Jahren mit Wachstumsraten bis zu zehn Prozent punktete, sind die toten Bergleute in Soma bedauerlich, aber solche Unfälle seien nun einmal nicht zu vermeiden, wenn man das Wachstum nicht gefährden wolle.

Die meisten Toten? Auf dem Bau!

Das zeigt sich nicht nur im Bergbau. Ein pensionierter staatlicher Kontrolleur aus dem Arbeitsministerium, Abnan Agir, hat in einem Interview mit der Zeitung Cumhuriyet darauf hingewiesen, dass die höchste Rate tödlicher Arbeitsunfälle gar nicht im Bergbau, sondern in der Bauindustrie zu beklagen ist. Dort gebe es nur nicht so spektakuläre Unfälle, bei denen Hunderte gleichzeitig sterben. Dafür sterben auf dem Bau aber täglich Arbeiter. Laut Agir gab es 2012 insgesamt 744 tödliche Arbeitsunfälle, davon allein 256 auf dem Bau. Während die Bergleute sozusagen den Rohstoff für das Wirtschaftswachstum liefern, ist die Bauindustrie der wichtigste Wachstumstreiber der Türkei.

In keinem anderen Land Europas wird so viel gebaut wie in der Türkei. Die Bevölkerung wächst, und mit wachsendem Wohlstand können die Menschen sich größere und bessere Wohnungen leisten. Dazu kommt, dass Luxuswohnungen in Hochhäusern in Istanbul längst zur lukrativen Geldanlage für arabische Scheichs und reiche Russen geworden sind. Mit den Gewinnen aus der Soma-Mine hat Bergwerksbesitzer Alp Gürkan einen dieser Tower (The Spine Tower) in Istanbul hochziehen lassen und verkauft dort nun Wohnungen, die nicht unter einer Million Dollar zu haben sind.

Die Zerschlagung der Gewerkschaften

Es ist kein Zufall, dass Gewerkschaften nicht im Bergbau und schon gar nicht in der Bauindustrie eine große Rolle spielen. Gewerkschaften, die sich für Arbeitssicherheit und gerechte Löhne einsetzen, werden von der Regierung als Wachstumsbremsen behindert und bekämpft. Erdogan und sein Kabinett wollen möglichst wenig Einschränkungen für die Unternehmer.

Die Schwäche der Gewerkschaften hat aber auch historische Ursachen. Noch in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts waren die Gewerkschaften in der Türkei eine Macht. Im linken Gewerkschaftsdachverband "Devrimci Isci Sendikalari Konfederasyonu" DISK (Konföderation der revolutionären Arbeitergewerkschaften) waren hunderttausende Arbeiter organisiert. DISK konnte die Massen auf die Straße bringen und führte in etlichen Branchen wirkungsvolle Streiks durch. Dann kam der Militärputsch vom 12. September 1980. Die Militärs führten später alle möglichen Gründe für ihren Putsch an, eines ihrer wichtigsten Ziele wurde jedoch kaum thematisiert: die Zerschlagung der Gewerkschaften.

Tausende Gewerkschaftsfunktionäre verschwanden nach dem Putsch mehr als ein Jahrzehnt hinter Gittern. Alle Gewerkschaften wurden verboten, später die Gründung staatsnaher "gelber" Gewerkschaften erlaubt, die bis heute bestehen und die Gewerkschaftsbewegung spalten und schwächen. DISK, die in den 90er Jahren wieder zugelassen wurde, hat sich bis heute von dem Schlag 1980 nicht wieder erholt.

Um die neoliberale Öffnung der türkischen Wirtschaft, die die Regierung von Turgut Özal, einem Vorbild von Erdogan, nach dem Putsch ab 1983 in Gang setzte, überhaupt durchführen zu können, musste die organisierte Arbeiterschaft ausgeschaltet werden.

In den Schlüsselbranchen wie Bergbau, Stahl, Bauindustrie, Metallverarbeitung (Autobau etc.) und Textilindustrie sind die Gewerkschaften bis heute sehr schwach. Etwas besser sieht es im öffentlichen Dienst aus, wo mit KESK (Kamu Emekcileri Sendikalari Konferasyonu) eine schlagkräftige Organisation existiert. Kleine Erfolge erzielten die türkischen Gewerkschaften in den letzten Jahren immer dann, wenn sie auf öffentliche und internationale Unterstützung aufbauen konnten. So musste die Regierung auf gewerkschaftlichen Druck 2009 die Textilklitschen schließen, in denen vorwiegend junge, ungelernte Arbeiter mit Sandstrahlgebläsen völlig ungeschützt Jeans für besser betuchte Teenager bleichten und dabei massenweise an Silikose, der Quarzstaublunge starben.

Kleine Erfolge

Erfolg hatten verschiedene Gewerkschaften auch auf den Schiffswerften des Landes, wo in den Boomjahren zwischen 2002 und 2008 hunderte Hilfsarbeiter tödlich verunglückten, bis die Einstellung ungelernter Leiharbeiter endgültig verboten und bessere Sicherheitsbestimmungen tatsächlich durchgesetzt wurden.

Beispielhaft sind auch die Erfolge der Transportabeitergewerkschaft TÜMTIS, die mit starker internationaler Unterstützung Tarifverträge bei UPS und DHL (siehe Bericht Seite 8) durchsetzen konnten. Doch das sind allenfalls Achtungserfolge. In den Schlüsselbranchen braucht es noch viel Druck und viel internationale Unterstützung, bis dort substantielle Veränderungen bei Arbeitssicherheit und gerechter Entlohnung durchgesetzt werden können.


Bergmänner in Soma

Die Zahlen

1172 Bergleute starben von 2001 bis 2012 unter Tage

744 tödliche Arbeitsunfälle gab es 2012 insgesamt in allen Branchen

256 davon allein auf dem Bau

250 Euro verdient ein türkischer Bergmann in Vollzeit im Monat