Boyhood - Langzeiterzählungen sind Richard Linklaters Spezialität. Seine jüngste über das Erwachsenwerden erstreckt sich über zwölf Jahre. Der Clou dabei: Alle Akteure altern in Echtzeit. Mason, die Hauptperson, ist zu Beginn sechs Jahre alt. Seine alleinerziehende Mutter ist die Basis der Familie, zugleich aber auch ein Hort der Unruhe, Umzüge und gescheiterten Beziehungen, stets gerät sie an die falschen Männer. Zum Ausgleich steht der Vater, selbst zwar mehr Kind als Mann, dem Jungen und seiner zwei Jahre älteren Schwester als verlässlicher Kumpel zur Seite. Große Dramen ereignen sich in den fast drei Filmstunden nicht, aber gerade deswegen avancierte die ebenso lustige wie traurige Coming-of-Age-Geschichte auf der Berlinale zum Publikumsliebling: Der banale Alltag einer schrecklich normalen Patchwork-Familie erinnert unwillkürlich an die eigene Jugend. Besonders stark berührt der Moment, wenn sich der 18-jährige Mason von zu Hause abnabelt und seiner Mutter schmerzlich bewusst wird, wie die Zeit vergeht. Kirsten Liese

USA 2014, R: R. Linklater, D: Ellar Coltrane, Patricia Arquette, Ethan Hawke, u.a., 163 Min., Kino-Start: 5.6.


No turning back - Ein Mann fährt im Auto durch die Nacht. Der Bauleiter hat eine folgenschwere Entscheidung getroffen: Er wird am nächsten Morgen nicht dabei sein, wenn das Fundament eines millionenschweren EU-Projekts gelegt werden soll, sondern einer labilen Frau Beistand leisten, die im fernen London ein uneheliches Kind von ihm erwartet. Die verbleibenden 90 Minuten auf der Autobahn bereitet er alle Betroffenen auf die Konsequenzen seines Handelns vor: den einfältigen Arbeitskollegen, der an seiner Stelle die große Betonanlieferung organisieren soll, die Ehefrau, die von dem einmaligen Seitensprung nichts ahnt, zu guter Letzt noch die ihn unter Druck setzende Gebärende. Trotz sich anbahnender Katastrophen wird der Dauertelefonierer nicht müde, auf seine Gesprächspartner/innen, deren Stimmen nur durch seine Freisprechanlage zu hören sind, einzureden. Tom Hardy meistert seinen Part fulminant - psychologisch präzise zwischen enormem Einfühlungsvermögen und leiser Verzweiflung. Zwar geht das Drama nicht so fies aus wie die packenden Ein-Mann-Krimis All is lost und Buried - Lebend begraben. Gleichwohl ist es ein atemraubendes Psychodrama. Kirsten Liese

USA/GB 2013, R: Steven Knight, D: Tom Hardy, 85 Min., KinoStart: 19.6.


Willkommen bei Habib - Dramatisches Fastfood in Stuttgart. Der türkische Familienvater Habib führt einen (für seine Landsleute zu) deutschen Imbiss, sein in Stuttgart geborener Sohn will zurück in die verklärte alte Heimat. Diese Auswanderung plant er mit seiner deutschen Freundin, obwohl er mit einer modernen Türkin verheiratet ist. Die wiederum trägt erstmals einen Schleier, um den konservativen türkischen Vermieter der erhofften Wohnung zu begeistern. Unterdessen verliert Imbisskunde Bruno seinen Managementjob. Auf der Verkehrsinsel vor dem Büro beginnt er auf Sperrmüllmöbeln einen Sitzstreik, wird aber schließlich den Imbiss übernehmen. Denn Habib hat seine Jugendliebe aus dem Heimatdorf wiedergetroffen, in Stuttgart, und muss jetzt über sein Leben nachdenken... In elegant inszenierten schwäbischen Straßenkulissen drohen Entscheidungen: Worauf verzichten, um etwas anderes zu bekommen, ob ein Heimatland, einen Menschen oder eine Hoffnung? Willkommen bei Habib trägt einen passend ambivalenten Untertitel: "Das Glück des Verlierens". Jutta Vahrson

D 2013, R: Michael Baumann, D: Vedat Erincin, Burak Yigit, Thorsten Merten, Maryam Zaree, Teresa Harder, 115 Min., Kinostart: 5.6.