Jede fünfte Räumung in Südspanien findet in Andalusien statt, wo zeitgleich bis zu einer Million Wohnungen und Häuser leer stehen und verfallen. Leben trotz Krise

Im zweiten Stock bleibt Elisabet stehen und setzt die Wasserkanister ab. Die 9-Jährige wartet auf ihren Bruder, sie atmet schwer. 150 Liter Wasser verbraucht ihre fünfköpfige Familie jede Woche. Sechs Mal laufen die Kinder dafür jedes Wochenende mit blauen Fünf-Liter-Wasserkanistern beladen zum Brunnen an der Straßenecke. Die grauen Stufen bis in den vierten Stock scheinen kein Ende zu nehmen. Javier beißt die Zähne zusammen und überholt Elisabet, er schwitzt. Auf dem nächsten Absatz muss aber auch er seine dünnen Arme entlasten.

"Was ist das für eine Welt, in der es Rettungspakete für Banken, aber nicht für notleidende Menschen gibt?", fragt Manuela Cortés. Mit 35 weiteren Familien hat die 67 Jahre alte Reinigungskraft im Mai 2012 in Sevilla ein Gebäude besetzt, das sie "Corrala de Vecinas la Utopía" tauften, "Nachbarinnen des Wohnblocks Utopie".

"Zuerst kaufen wir Essen für unsere Kinder, und dann zahlen wir unsere Schulden", sagt Manuela. Das ist eine Aussage, die Banken nicht beeindruckt, aber die Ausgangssituation vieler spanischer Familien beschreibt. Die Angst davor, dass ihnen ihre Kinder wegen ihrer Obdachlosigkeit vom Sozialamt weggenommen werden, verleiht vor allem den Frauen ungeahnte Kräfte. Sie widersetzen sich, machen Politik, besetzen unbewohnte Wohnungen und halten auch dann durch, wenn man ihnen dort das Wasser und den Strom abstellt.

Die Auswirkungen der Finanzkrise Spaniens sind im sonnigen Süden des Landes besonders spürbar. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote beträgt in Spanien 27 Prozent, in den ländlichen Regionen Andalusiens liegt sie bei bis zu 47 Prozent, und zwei Drittel, also fast 70 Prozent aller Jugendlichen sind betroffen. Nach sechs Jahren Krise bekommt kaum noch jemand Arbeitslosengeld, die Hypotheken und Mieten sind von der Sozialhilfe nicht bezahlbar, heute sind laut Caritas 350.000 Menschen unterernährt. Die Plattform der Hypothekenopfer (PAH) spricht von mehr als 400.000 Familien, die seit Beginn der Krise 2008 aus ihren Wohnungen geräumt wurden. Jede fünfte dieser Räumungen findet in Andalusien statt, wo zeitgleich bis zu einer Million Wohnungen und Häuser leer stehen und verfallen.

Moderne Sklaverei

"Wir brauchen ein Recht auf Wohnraum, Strom und fließendes Wasser", fordert Diego Cañamero, der Sprecher der Arbeitergewerkschaft Andalusiens, Sindicato Andaluz de Trabajadores (SAT). Diese macht unter anderem durch die Besetzung von Farmland auf sich aufmerksam. "Es ist doch moderne Sklaverei: 15 bis 30 Euro Tageslohn. Aber es gibt so viel Hunger, dass auch für die niedrigsten Löhne gearbeitet wird", erklärt Lola Álvarez, Vorsitzende der SAT Córdoba. "Nur zwei Prozent der Bevölkerung besitzt die Hälfte aller andalusischen Anbauflächen, aber nahezu jeder zweite Landarbeiter in Andalusien hat keine Arbeit, um seine Familie zu ernähren."

links: Kein Wasser in der Corrala: mit Wasserkanistern und -schläuchen wird der Mangel überbrückt mitte: 40 Grad: unerträgliche Hitze im Sommer. Erst abends können die Kinder draußen spielen rechts: Die Angeles nutzen abends Kerzen gegen die Dunkelheit, eine Glutschale unterm Tisch gegen die Kälte

Die soziale Bewegung Spaniens spricht von dem "finanziellen Genozid" einer ganzen Klasse. Und doch gibt es Hoffnung für die Betroffenen. Die Erfahrung, für die eigenen Rechte und das Überleben der Familien einzustehen, stärkt die Menschen und verbindet sie. Die Solidarität wächst, und Menschen, die ihr Leben lang nicht über den Tellerrand hinaussahen, werden zu politischen Akteuren, die alternative Wege einschlagen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte untersagte im Februar 2014 zum zweiten Mal die Räumung von Wohnungen in Spanien für den Fall, dass deren Bewohner keine Alternative zum Leben auf der Straße hätten. Dennoch wurden Manuela Cortés und ihre Kinder und Enkelkinder sowie die anderen Familien am 6. April 2014 aus der Corrala de Vecinas la Utopía zwangsgeräumt.

li. oben: Fran zieht mit seiner fünfköpfigen Familie aus, in ein Zimmer bei den Eltern seiner Freundin li. unten: Wenn Aguasanta im Protestcamp vor der Bank ist, passen Nachbarn auf ihre drei Söhne auf "Jetzt, mit 65 Jahren, bin ich Aktivistin", sagt Manuela Cortés, die vor Gericht wartet

Cortés war früh aufgestanden und das Kaffeewasser gerade am kochen, als sie um 8 Uhr den Schein der blauen Sirenenlichter der Polizeiwagen an den Küchenwänden sah. Mit mehr als 20 Mannschaftswagen und einer technischen Sondereinsatzgruppe sowie zwei Krankenwagen war die Staatsgewalt angerückt. Im Nu hatte die Polizei drei der sechs Spuren der Hauptstraße vor dem Gebäude abgesperrt. Manuela Cortés informierte per Handy die Unterstützungsgruppe der Corrala de Vecinas la Utopía und ihren Anwalt, während sie das Geschehen vom Balkon aus beobachtete. Sie war erstaunlich ruhig dabei, ihre erwachsenen Kinder aber waren nervös und verängstigt. "Wenn du erst mal da angekommen bist, wo ich bin, hast du vor nichts mehr Angst", erklärt sie ihre Ruhe.

Die Finca Somonte mit 400 Hektar Anbaufläche wird seit März 2012 besetzt und bewirtschaftet

Mit Bettdecken unterm Arm

Auf dem Tisch stand noch das Geschirr des Abendessens, als die Polizei an ihrer Tür klopfte, die Haustüren aufbrach und die Bewohner mit dem, was sie tragen konnten, geräumt wurden. Die demonstrierenden Freunde und unterstützenden Nachbarn mussten von Weitem tatenlos zusehen, wie Eltern und Kinder gegen 11 Uhr weinend, mit Bettdecken und gepackten Taschen unter den Armen nach und nach das Haus verließen. "Jetzt hat die Corrala ein Ende", sagte Manuelas Nachbarin Aguasanta unter Tränen und versuchte sich auf die Straße zu setzen. Andere schlossen sich an, doch die Sitzblockade wurde schnell aufgelöst.

Die anarchosyndikalistische spanische Gewerkschaft Confederación General del Trabajo (CGT) beherbergte die geretteten Gegenstände in ihrem Büro, bevor die Geräumten zusammen mit der immer größer werdenden Unterstützerschaft demonstrierend durch die Stadt bis vor das Rathaus zogen. Dort wurden Schlaflager aufgebaut und der Schock verdaut.

Die Hälfte der geräumten Besetzer hat bis heute keine neue Unterkunft gefunden. Doch nach 23 Monaten Besetzung - ohne fließendes Wasser und unter starkem Druck seitens der Behörden - zeigt die Kraft des Widerstandes Wirkung. Die Landesregierung Andalusiens ist wegen der Räumung dieser Familien fast zerbrochen. Zusagen der Vereinigten Linken, Izquierda Unida (IU), dass die Bewohner der Corrala de Vecinas la Utopía gemeinsam umgesiedelt würden, wollte der sozialdemokratische Koalitionspartner PSOE (Partido Socialista Obrero Español) nach der Räumung nicht erfüllen. Auch drei Wochen danach ist die Koalition nicht über den Berg. Der Verdacht, dass die Hauptstadt Andalusiens 389 Wohnungen als Spekulationsobjekte leer stehen lässt, anstatt einige der 12.000 Menschen auf der Warteliste für eine soziale Wohnung dort einzuquartieren, macht nicht nur die Obdachlosen wütend.