Ausgabe 08/2014
Immer nach oben blicken
Immer nach Oben blicken
Wenn auf der Musicalbühne der Neuen Flora der Standby-Call ertönt, geht die Show los. Bis dahin haben schon rund 90 Menschen Hand in Hand vor, auf und hinter der Musicalbühne gearbeitet, damit sich der Vorhang für das Phantom der Oper öffnen kann. Ein Blick hinter die Kulissen
Gefährlicher Arbeitsplatz - wenn von oben ein Schraubschlüssel herabfällt
Diesem Mann möchte niemand auf einsamer Straße begegnen. Seine rechte Kopfhälfte ist unmenschlich entstellt. Blutig und zerfetzt wie ein Kriegsopfer wird Mathias Edenborn, der Darsteller der Titelrolle im Phantom der Oper, von Sabine May in seiner Solokabine geschminkt. Mit geübten Bewegungen klebt die Maskenbildnerin die handgefertigte Gummimaske auf den Kopf, tupft endlos lange mit schwarzer, weißer und roter Farbe das verzerrte Nasenloch riesengroß und zeichnet Blut und Schorf auf die faustgroße offene Wunde im Schädel. Nach 90 Minuten setzt sie ihrem Werk die Perücke mit der biederbösen Kurzhaarfrisur auf: Fertig ist das Monster.
"Diesen Part können auch fünf andere Maskenbildner", sagt Sabine May im unvermeidlichen Theatersprech. Der Part, das ist in diesem Fall das Schminken des Phantoms. Jeder Part ist mindestens doppelt und dreifach vergeben. Für die Rolle des Phantoms gibt es zwei Ersatzspieler. "Einer davon ist heute bei der Show im Haus - falls ich mir den Fuß verdrehe", sagt Mathias Edenborn. Es ist 17 Uhr 55, aus dem schepperigen Lautsprecher ertönt die Ansage, die im ganzen Haus zu hören ist: "Noch dreißig Minuten bis zum Standby." Ab nun will der Titeldarsteller allein sein mit seinem wachsenden Lampenfieber.
Maskenbildnerin Sabine May macht aus Hauptdarsteller Mathias Edenborn ein Monster
Waschen, Legen, Föhnen
Vier Stunden zuvor, um 14 Uhr, ist die Atmosphäre im Theater Neue Flora in Hamburg noch ruhig und gelassen. Im fünften Stock repariert Yvonne Kollien eine Perücke, die gestern Abend bei der Show ein Büschel Haare verloren hat. Mit sicherer Hand verknotet die Maskenbildnerin jedes Haar einzeln mit einer Art Häkelnadel in die reißfeste Gaze. Für jeden der 31 Darsteller dieser Show sind zwei identische Perücken pro Rolle gefertigt worden, alle aus Echthaar, in Handarbeit und hier im Haus. Insgesamt stehen mehrere hundert Haarteile in den Regalen. 16 gelernte Maskenbildnerinnen arbeiten hier, die meisten sind auch Friseurinnen. Am Abend werden sechs aus dem Team die Schauspieler schminken und die Perücken wechseln. Doch zuvor heißt es Waschen, Legen, Föhnen für die drei Frauen im Tagesdienst.
Das Phantom der Oper spielt im Paris der 1880er Jahre, daher gibt es viele großartig gelockte Langhaarperücken für die Cast, die Schauspieler/innen. Die verschwitzten Haarteile werden ein oder zweimal pro Monat gewaschen, auf Lockenwickler gerollt und getrocknet. Auf vier Rollgestellen stecken heute alle Perücken, die an diesem Abend gebraucht werden, beschriftet mit den Namen der Schauspieler/innen und ihrer Rollen. Wenn alle Perücken für den Abend frisch onduliert sind, schiebt Yvonne Kollien die Rollgestelle über den Aufzug zur Bühnenebene.
Auf der rechten Nebenbühne warten schon die farbenprächtigen Kostüme für die männlichen Darsteller. "Die Kostüme lassen wir in verschiedenen Hamburger Schneidereien fertigen", sagt Holger Klingenberg, der Leiter der Kostümabteilung, der seit 22 Jahren hier arbeitet und schon die erste Phase vom Phantom der Oper erlebt hat, das bereits von 1990 bis 2001 in der Neuen Flora gespielt worden ist. "Damals haben wir mit 22 Mitarbeiterstellen alle Kostüme im Haus geschneidert. Heute hat meine Abteilung noch 5,25 Stellen, weil wir eigentlich nur noch Änderungen und Reparaturen vornehmen. Ab Januar wird unsere Abteilung um eine weitere halbe Stelle gekürzt."
Holger Klingenberg muss jetzt aber aus einem anderen Grund warnen: "Niemals über die Bühne gehen. Das ist ein gefährlicher Arbeitsplatz. Du weißt nie, ob da oben einem Techniker der Schraubenschlüssel aus der Hand fällt." Also gehen wir einen beachtlichen Umweg zu der linken Nebenbühne, wo auf langen Kleiderständern die Kostüme nach den Darstellerinnen sortiert und beschriftet hängen. Die meisten tragen während der Show mindestens sechs unterschiedliche Kostüme. Und ähnlich viele Paar Schuhe, die Klingenberg entweder ganz profan im Schuhfachhandel kauft oder bei einer Fachwerkstatt in Süddeutschland maßschustern lässt.
Von li. nach re.: Alexandra Knoll, die Requisiteurin, bereitet die Pyrotechnik vor. Auf Achim Beyer, den Stagemanager, hören alle, auch Balletttänzer Christopher Carduck, der sich noch warm macht
Achtmal in der Woche, 400 Mal im Jahr
Pro Woche wird das Phantom der Oper acht Mal aufgeführt, rund 400 Mal im Jahr. Das ist eine wahre Materialschlacht, deshalb wird jedes Kostüm wie für die Ewigkeit gefertigt. Dennoch gibt es bei jeder Show Verschleiß: Knöpfe reißen ab, Nähte platzen auf, Pailletten lösen sich. "Weil wir Kostümleute Feierabend machen, wenn die Show beginnt, kontrollieren die Dresser nach der Show jedes Kostüm und notieren, was wir morgen reparieren müssen", sagt Klingenberg.
Bis 17 Uhr 30 sind die zwölf Dresser gekommen, deren Aufgabe es ist, die Schauspieler/innen während der Show umzuziehen. Je nach Szene stehen manchmal nur 30 Sekunden für den Kleiderwechsel zur Verfügung. Wie beim Reifenwechsel in der Formel 1 sitzt jeder Handgriff. "Die Schauspieler stellen sich nur mit ausgestreckten Armen hin, so stören sie die Dresser am wenigsten", erklärt Holger Klingenberg. Erschwerend ist die Finsternis. Die Nebenbühnen, die offen sind zur eigentlichen Bühne, sind komplett schwarz, selbst die Vorhänge sowie die Kleidung der Backstagemitarbeiter/innen. Lediglich ein funzeliges blaues Licht gibt dem Auge halt. "Unsere Sonne ist blau", lautet daher ein Spruch, den alle Backstage, hinter der Bühne, kennen.
Beschäftigte zweiter Klasse
Eine Bühne, ein Spruch, ein Team? Nein, nicht mehr wirklich ein Team. 2008 hat Stage Entertainment seine Dresser outgesourced, hat die langjährig vertrauten Kolleg/innen zu einer Fremdfirma verschoben. Zu deutlich schlechteren Konditionen - befristete Verträge, Feiertage werden auf den Urlaub angerechnet und deutlich weniger Geld - machen sie weiterhin denselben verantwortlichen Job, Hand in Hand mit den fest bei Stage Angestellten. Seitdem ist die Frustration unter den Dressern groß, und auch die Fluktuation. Richtig mies war die Stimmung auf der Premierenfeier von Tarzan im Oktober 2008, zu der die Dresser nicht geladen waren. Während die festangestellten Kolleg/innen mit Sektglas auf der Bühne feierten, saßen die Dresser bei einer Pulle Bier in der Kantine.
Das, so hört man, sei eine typische Entscheidung der Konzernleitung. Dort entschieden nur noch kühl kalkulierende Manager und Controller, die wohl nie im Leben Teil einer großen Theatercrew waren. Wer nicht selber erlebt hat, wie sehr blindes Vertrauen, Bühnenstaub und Toi,Toi,Toi den Betrieb zusammenschweißen, der ahnt scheinbar nicht, wie sehr er das Betriebsklima beschädigt, wenn er die Beschäftigten ohne Not nach einer umjubelten Premiere in zwei Klassen spaltet, anstatt sie gemeinsam zu feiern und feiern zu lassen.
Noch stecken die Funkmikrofone auf der Ladestation, letzte Ansagen gehen übers Headset ein
Mittendrin der Bühnenmeister
Inzwischen beleben die Bühnentechniker die Bühne und machen ihre Tests. Alles, was in der Show gebraucht und bewegt, gesehen und gehört wird, bringen sie in Stellung oder prüfen es. Aus jedem Lautsprecher erklingt eine ulkige Testansage, jeder Vorhang geht elektrisch auf und zu und fahrbare Gebäudeteile schieben sich von der Seite auf die Bühne und wieder raus. Mittendrin steht der Bühnenmeister Dieter Hiller und passt auf, dass der unbedarfte Reporter nicht ausgerechnet dort steht, wo gleich der bemalte Prospekt probeweise auf den Boden kracht. Spektakulär sind auch die pyrotechnischen Effekte, die Alexandra Knoll vorbereitet. Die Requisiteurin prüft die Stromanschlüsse, Funkverbindungen und Platzpatronen, damit die Kerze im rechten Moment knallt und die Waffe feuert. Insgesamt sind rund 1000 Handgriffe erforderlich für das sogenannte Preset, also damit die Bühne für den Start der Show vorbereitet ist.
Tontechniker Wolfram Machhold prüft derweil die 34 Funkmikros, die bei der Show zum Einsatz kommen, plus ein gutes Dutzend Ersatzgeräte. Es kommt häufig vor, dass während der Show eines der drahtlosen Mikros ausfällt, dann platziert er bei nächster Gelegenheit blitzschnell mit den Dressern einen neuen Sender unter dem Kostüm des Darstellers und verlegt das Kabel bis zum Stirnansatz der Perücke, wo das Mikro hervorlugt. Die Hauptdarsteller/innen tragen immer zwei Funkmikroeinheiten parallel, damit Machhold, der heute im Radioraum auf der Nebenbühne dafür zuständig sein wird, blitzschnell auf die Ersatzfrequenz umschalten kann, wenn ihn der andere Tontechniker vom Mischpult hinter dem Publikum über Headset von einem Ausfall informiert. Vor allem verantwortet der andere Tontechniker das Klangerlebnis im Saal; er mischt live die Mikros der Sänger/innen und alle Orchesterinstrumente.
Vor 24 Jahren spielten noch 29 Musiker im Orchester, heute sind es nur noch 14. Was früher etwa der Posaunist live gespielt hat, ertönt heute als Aufnahme aus dem Speicher des Keyboards. Der technische Fortschritt macht es sogar möglich, dass der Keyboarder die Einspielung live anpassen kann, falls ein Schauspieler seinen Einsatz verpatzt. Nach und nach trudeln die 14 Orchestermusiker/innen ein, ebenso die 20 Mitarbeiter/innen aus dem Vorderhaus, die im direkten Publikumskontakt für Kasse, Einlass, Garderobe und Bar zuständig sind.
Auch Christopher Carduck macht sich warm. Der 23-jährige Balletttänzer steht im blauen Trainigsanzug vor dem wandfüllenden Spiegel im Probenraum, hebt ein Bein senkrecht in die Luft, greift es und dehnt es über den Kopf hinweg bis die Beine wie die Uhrzeiger um halb elf stehen. Er wird nachher zwei Rollen in zwei Kostümen tanzen. Proben? "Nein, das gibt es eigentlich nicht, das sitzt inzwischen. Proben gibt es nur noch, wenn neue Kollegen dazukommen oder wenn der künstlerische Leiter eine ,Putzprobe ́ anordnet, weil er meint, es habe sich eine ungewollte Veränderung eingeschlichen."
Fast Alle hören auf den Caller
"Noch 15 Minuten bis zum Standby." Es ist 18 Uhr 10, die letzte Gelegenheit für den Gang zur Toilette. Achim Beyer, der Stagemanager, steigt in seinen abgedunkelten Plexiglaskasten über den Köpfen der 1500 Zuschauer. Von dort oben sieht er die Show und über Monitore alle Backstagebereiche. Er ist der technische Leiter, auch Caller genannt, der per Mikro die Einsätze für Licht, Ton und Pyrotechnik auf die Headsets der elf Mitglieder der Showcrew gibt, die jeweils einen der technischen Parts übernehmen werden. Unter ihnen der Floater, der zweite Stagemanager, quasi der bewegliche Partner von Achim Beyer auf der Bühne. Sobald die Vorstellung beginnt, ist der Caller das Hirn der Show. Alle hören auf sein Kommando. Fast alle: Das Herz der Show ist der Dirigent, der künstlerische Leiter, der etwas erhaben im Orchestergraben steht und die Einsätze für die Musiker unter der Bühne mit den Tänzern und Sängern auf der Bühne synchronisiert.
Fünf vor halb sieben, die letzte Durchsage: "Standby Call". Alle Darsteller/innen begeben sich spätestens jetzt - fertig verkleidet und geschminkt - an ihre Plätze. Denn Punkt halb sieben gibt Achim Beyer das Signal zum Verdunkeln des Zuschauersaals, dann für die Musik und wenige Momente später an die Darsteller, auf die dunkle Bühne zu gehen. Dann lässt der Caller das Licht erstrahlen: Die Show beginnt.
Tarifverträge bei Stage Entertainment gibt's nicht automatisch
Stage Entertainment betreibt in Deutschland derzeit elf Musicalbühnen, darunter vier in Hamburg. Das jüngste Haus in der Hansestadt, das Theater an der Elbe, wurde erst im November 2014 mit der Weltpremiere von Das Wunder von Bern eröffnet. In jedem der drei alteingesessenen Hamburger Stage-Musical-Häuser gibt es jeweils einen Betriebsrat und einen eigenen Tarifvertrag. Die Musicals von Stage Entertainment sind die einzigen Privattheater Deutschlands mit Tarifbindung. Anders als bei den staatlichen Theatern hat ver.di sogar Tarifverträge für die Orchestermusiker/innen, Sänger/innen und Tänzer/innen abgeschlossen. Deren Arbeitsverträge sind - theatertypisch - befristet. Die Tarifverträge regeln während ihrer Laufzeit ein Verbot von Outsourcing und betriebsbedingten Kündigungen während einer laufenden Produktion. Allerdings nutzt Stage regelmäßig die Zeit zwischen dem Auslaufen der Tarifverträge bis zum Abschluss der neuen, um ganze Abteilungen auszugliedern. "Die Tarifverträge, die wir mit Stage Entertainment geschlossen haben, können sich sehen lassen. Auch wenn wir immer wieder versuchen müssen, das Ausgliederungsverbot neu zu tarifieren", sagt Agnes Schreieder, Stellvertretende Landesbezirksleiterin bei ver.di Hamburg. Inzwischen sind alle Vorderhäuser (Einlass, Garderobe und Getränkeservice) ausgegliedert. Außer beim König der Löwen im Hafen, dem Flaggschiff des Konzerns, das auch gewerkschaftlich besonders gut organisiert ist - sind auch die Dresser outgesourced. Zudem kürzt Stage häufig die Arbeitsstunden und besetzt frei gewordene Stellen nicht neu.
Auch für die neue Tarifrunde, die ver.di ab Januar zentral für bundesweit zehn Stage-Häuser mit der Konzernleitung führen wird, gilt es, weiteres Outsourcen zu verhindern. Noch nicht verhandelt wird für das Theater an der Elbe. "Ein Tarifvertrag ist auch bei Stage Entertainment kein Automatismus. Den kriegen wir nur hin, wenn sich möglichst viele Kolleginnen und Kollegen organisieren, einen Betriebsrat und eine Tarifkommission gründen", so Schreieder. Das neue Theater ist ein Gradmesser, denn dort konnte Stage vom Start weg die Bedingungen einführen, die der Konzern vermutlich gern überall hätte: Erstmals stellt dort eine Fremdfirma die Mitarbeiter von Kasse und Kantine. Die Leute verdienen teils nur sieben Euro pro Stunde. Auch ein Orchestermusiker arbeitet länger und verdient deutlich weniger als beim König der Löwen.