National Gallery - Zunächst war der Mann Jurist, recht lustlos. Dann beschloss er, Dokumentarfilme zu drehen, über Themen wie Primaten, Ballett, Häusliche Gewalt oder die Uni in Berkeley. Der Amerikaner Frederick Wiseman, in Venedig mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk ausgezeichnet, lässt jetzt mit diesem Meisterstück jeden hinter die Kulissen der National Gallery schauen. So zeigt sich das Museum am Londoner Trafalgar Square nicht bloß als Wallfahrtsort für Gemäldefans, sondern als Arbeitsplatz von überaus smarten Kunsthistorikerinnen, von Restaurateurinnen, Putzmännern, Rahmenschnitzern, der Finanzmanagerin oder der PR-Fachfrau, die im britisch subtilen Streit mit dem Chef des Hauses um die Zukunftsstrategie der Bildersammlung ringt. Typischerweise ohne lenkende Kommentare des Regisseurs tauchen wir auch in die Gemälde ein, in ihre Geschichten um garstige Götter (Tizian) und tote Pferde (Stubbs) oder Entdeckungen unter einer uralten Firnisschicht. Ein überaus anregender Film für den Jahresbeginn, an dem Frederick Wiseman seinen 85. Geburtstag feiert. Jutta Vahrson

GB/F/USA 2014, R: FREDERICK WISEMAN. 173 MIN., KINOSTART 1.1.15


Winterschlaf - Mit seinen Hotelgästen plaudert er charmant, um die von einem Jungen mutwillig eingeschlagene Windschutzscheibe seines Autos macht Aydin nicht viel Aufhebens. Doch täuscht sich, wer den Wohlhabenden für einen ebenso freundlichen, jovialen Menschen hält. Erst nach und nach kommen seine perfiden Charakterzüge zum Vorschein. Den Armen, die von ihm ein wenig Gnade und den Erlass ihrer Schulden erflehen, versagt der literarisch gebildete Schöngeist seine Zeit, Frau und Schwester erniedrigt der penetrante Besserwisser in uferlosen Streitgesprächen. Immer mehr entpuppt sich der Intellektuelle als ein eitler, bei Wintereinbruch aber auch vereinsamender Despot und Zyniker, der seine Privilegien missbraucht, um sich seine Mitmenschen zu unterwerfen. Die lange Laufzeit der subtilen, nachdenklichen Charakterstudie sollte nicht abschrecken, besticht doch der diesjährige Gewinner der Goldenen Palme auch in künstlerischer Hinsicht mit zarter Poesie und stimmungsvollen Bildern archaischer Höhlenlandschaften im türkischen Kappadokien. Kirsten Liese

TR/D/F 2014. R: NURI BILGE CEYLAN, D: HALUK BILGINER, MELISA SÖZEN, DEMET AKBAĞ. U.A. 196 MIN. KINOSTART: 11. 12.2014