Christian Krähling (Foto rechts) hat dem weltweit größten Online-Versandhändler ein Gesicht gegeben. Seit Jahren streitet er am Amazon-Standort Bad Hersfeld für einen Tarifvertrag, zuletzt sogar mit einer Online-Petition. Einiges haben er und seine Kolleginnen und Kollegen schon erreicht. Doch das reicht noch lange nicht. Sie wollen einen Tarifvertrag

von Heide Platen

Die kleine, hellbraune Haarwelle über der Stirn ist ein bisschen Tim, ein bisschen Struppi. Einmal habe ein Kollege über den Arbeitskampf berichten wollen, aber: "Dann hat der fast nur über meine Haare geschrieben." Die Tolle entstehe, versichert er, morgens eher zufällig. Christian Krählings blaugraue Augen blitzen, im runden Gesicht macht sich immer wieder verschmitztes Lächeln breit. Das schwarze T-Shirt mit der Aufschrift "Viva la Revolucion - Cuba libre" trägt er als Erinnerung an seinen Urlaub auf der Insel. Dort übergab er bei einem Solidaritäts- und Informationsbesuch mit Gewerkschaftskollegen Spenden aus Deutschland. Geblieben ist danach auch die Vorliebe für Zigarren.

Christian Krähling, 37, arbeitet dort, wo er alles manchmal "sehr merkwürdig" findet, in Wechselschicht im Logistikzentrum des Online-Händlers Amazon im mittelhessischen Bad Hersfeld. Rund 3000 Menschen sind dort beschäftigt, die meisten auf Zeit. Seit 2011 kämpft ver.di dort und an den anderen sieben Amazon-Standorten in Deutschland für den Abschluss eines Tarifvertrages und um die Festanstellung von Mitarbeitern mit befristeten Verträgen. Seit 2013 gab es über 40 Streiktage. Die Firmenleitung weigert sich beharrlich, zu verhandeln.

Wie eine graue Trutzburg thronen die Lagerhallen auf einem Hügel im Gewerbegebiet am Ortseingang von Bad Hersfeld, Adresse: Amazon-Straße 1. Von hier oben geht der Blick weit über das Land zu den Hügeln des Knüllgebirges. Auf dem riesigen Parkplatz stehen Autos vor allem aus der Stadt, dem Landkreis und dem benachbarten Thüringen. Und dutzende großer Sonnenkollektoren. Umweltfreundlich sind sie immerhin, denkt der Gast, und einen Kindergarten haben sie auch. Der erste Eindruck täuscht, nichts davon gehört zu Amazon, außer den Versandhallen, von denen aus in zwei Schichten vor allem Kleidung verschickt wird.

Das freundliche Gespräch

Christian Krähling ist "Escalation Specialist": "Das ist die Schnittstelle zwischen Kundenservice und Lager." Er sucht die Fehler und die Möglichkeiten zur Korrektur: "Warum wurde ein rotes statt ein grünes T-Shirt geliefert?" Der Bereich Bekleidung sei eine besonders diffizile logistische Aufgabe, denn viele Kunden, vor allem Frauen, bestellen gerne Kleider und Schuhe in drei Größen, behalten, was passt, und schicken den Rest zurück. Dass seine Position im betriebsinternen Sprachgebrauch auch "Leseratte" genannt wird, gehört zu den Dingen, die er besonders merkwürdig findet: "Da gibt es Begriffe, die man selbst im Wörterbuch nicht findet." Woher die vielen Phantasiebezeichnungen kommen, sei oft nicht mehr nachvollziehbar. Da es im Management eine hohe Fluktuation gebe, sei oft auch nicht mehr nachvollziehbar, wer sich was warum ausgedacht habe. Da gibt es "Picker" und "Packer" im Versand. "Zombiehunter" habe es auch mal gegeben, die mussten aus den Regalen gefallene Waren in "amnesty bins" einsammeln. "All hands" sind von der Geschäftsführung verordnete Mitarbeiterversammlungen. Und die gefürchteten Motivationsgespräche heißen "Feedbacks". Die findet er besonders merkwürdig: "Bei Amazon fliegt so schnell keiner raus." Er wird stattdessen zum freundlichen Gespräch gebeten, das dann oftmals als in sanftes Säuseln verpackte Drohung empfunden wird.

Krähling ist ver.di-Sprecher bei Amazon und zeigt das auch. Heute und an allen anderen Tagen auch trägt er seinen Amazon-Mitarbeiterausweis an einem breiten roten ver.di-Schlüsselband. Seine Kleidung war auch schon Stein des Anstoßes. Als er die obligatorische orange Sicherheitsweste der Firma gegen eine gelbe von ver.di tauschte, eckte er prompt an. Die sanfte firmeninterne Konfliktlösung war Amazon-typisch, kein Rüffel, schon gar keine klare Arbeitsanweisung, sondern - eben - das freundliche Gespräch: "Anderswo wäre ich längst geflogen." Den Kollegen, und wenn nicht denen, dann "mir zuliebe", flötete der Vorgesetzte, solle er das Kleidungsstück doch bitte wieder wechseln. Diese vermeintliche Kollegialität der nur scheinbar "sehr flachen Hierarchien verunsichert ungemein". Die Atmosphäre, finden Amazon-Neulinge, sei "schon fast ein bisschen unheimlich", ein Hauch von Big Brother im Versandhandel.

Wie in Absurdistan

Neueingestellte erwartet zuallererst ein Motivationsgespräch, bei dem sie auch gleich Verbesserungsvorschläge machen dürfen, die manchmal unfreiwilliger Komik nicht entbehren und nur scheinbar ernst genommen werden. Selbst der Vorschlag, auch "Drogen und Waffen" zu versenden, zog Erwägungen nach sich, ob nicht wenigstens auch Medikamente in die vielfältige Produktpalette aufgenommen werden könnten. Die Freiheit allerdings ist nur allzu begrenzt. Fast alles bei Amazon ist standardisiert, die Arbeitsabläufe an Tischen und Regalen berücksichtigen nicht, dass Menschen sowohl verschieden gebaut wie unterschiedlich leistungsfähig sind.

Amazon bezeichnet sich selbst weltweit als Online-Händler, seine Beschäftigten weist der Versandhändler als Logistiker aus

Unterschiede werden allerdings schon gemacht. Die Betriebsausweise haben unterschiedlich farbige Ränder, die, warum auch immer, die Dauer der Betriebszugehörigkeit signalisieren. Unterschiedliche Dienstgrade tragen unterschiedlich farbige Bändchen. Manches erscheint Neulingen "wie Absurdistan". Alle Geräte in der Personalküche sind beschriftet wie für die "ganz besonders Dummen", sagt Krähling. Auch der "Kühlschrank". Sogar für die Computerarbeitsplätze gab es mal Zettel, Klebeband markierte auf der Tischfläche ein Kästchen für die Computermaus. Auch Sicherheit wird groß geschrieben, klingt aber entmündigend: bitte am Treppengeländer festhalten, Schuhe zubinden, etc.. Alles sehe, so Krähling, nach außen "sehr ordentlich und sauber aus". Die Arbeitsabläufe aber seien oft unergonomisch, belasteten Rücken und Muskulatur, die schlechte Lüftung die Atemwege. Der Krankenstand sei überdurchschnittlich hoch.

Krähling ist seit 2009 bei Amazon und seit 2010 fest angestellt. Eigentlich arbeitet er gerne in der Firma. "Ich hatte Glück", sagt er, "ich habe eine bessere Position als viele andere hier." Für die anderen setzt er sich deshalb ein. 2014 hat er auf der Internet-Plattform Change.org eine Petition veröffentlicht, die bisher von über 38.000 Menschen unterzeichnet wurde. Er bleibt darin besonders höflich und freundlich im Ton wie seine Vorgesetzten, verlangt aber Respekt und Verhandlungen "auf Augenhöhe". Er gestikuliert, zeigt Flyer, die neue Betriebszeitung, die dieses Jahr zum ersten Mal erschienen ist. Er lebt Gewerkschaft und Arbeitnehmersolidarität, aber bitte nicht bierernst.

Alles, was heikel ist

Es sei ja auch gar nicht so, dass die Firmenleitung den Betriebsrat völlig ignoriere. Aber: "Die wollen alles intern regeln." Nach den Neuwahlen in diesem Jahr erhofft sich Krähling von dem Gremium etwas mehr Biss. Die seit 2001 bestehende Arbeitnehmervertretung sei "so vor sich hin gewachsen", und mancher Kollege verstehe sich eher "als so eine Art Co-Manager". Datenschutz, Mitbestimmung? Alles heikle Themen im Betrieb. Scanner kontrollieren die Arbeitsleistung jedes einzelnen Angestellten: "Die wissen ganz genau, wer welches Paket wann für wen verpackt hat." Eine Zeit lang erschienen sogar auf den Displays der "Picker", der Arbeiter, die die Warensendungen zusammenstellen, Warnhinweise: "Du hast noch vier Sekunden." Die Leads, die Vorarbeiter und die Manager, sehen alles in Echtzeit mit, auch die Pausen. Wer im Pensum nachhängt, muss mit freundlichen Gesprächen rechnen: "Bist Du krank? Können wir Dir helfen? Können wir etwas für Dich tun? Du willst doch eine Vertragsverlängerung." Und - Totschlagargument - denk an die Arbeitsplätze! Eigentlich solle "jeder über dem Abteilungsdurchschnitt" liegen: "Das ist unmöglich."

Krähling sagt, das sei "das menschenverachtendste Überwachungssystem, das ich je gesehen habe". Aber bei anderen Versendern sei es, hat er von Kollegen erfahren, "auch nicht viel anders". Der Mensch werde nicht als Mensch, sondern "nur noch als Teil des Prozesses" gesehen.

Auf den Kundenservice, der Amazon so beliebt macht, lässt Krähling nichts kommen: "Die fahren auch volle Schichten für drei Pakete." Der Umtausch ist garantiert. Krähling hält nichts vom Verbraucherboykott. Viele Menschen mit kleinem Einkommen seien auf die niedrigeren Preise bei Amazon angewiesen: "Man muss dahin gehen, wo die Spirale entsteht." Unternehmen, die gerechte Löhne zahlen müssen, könnten nicht endlos expandieren. Mit der Verpflichtung zu Tarifgehältern könnten sie die Konkurrenz nicht mehr über das Drücken der Löhne austragen. Man müsse Bezahlung und Arbeitsbedingungen "ins Verhältnis zum Erfolg des Unternehmens setzen".

Christian Krähling ist auf eine weitere Nacht bei ver.di vorbereitet

1000 Splitter

Dass Unmut herrscht bei der Belegschaft im Betrieb, macht ein Kollege deutlich, der sich nach Feierabend vor dem Werkstor ein Rededuell mit Krähling liefert. Und dabei die Zerrissenheit der Belegschaft deutlich macht. Ahmet K. hat sichtlich Zorn. So kleine Streiks wie bisher, meint er, bringen es nicht. Da müsse eine große Macht und großer Druck her, "mal ordentlich streiken". ver.di aber wolle das doch gar nicht, sondern ziehe die Konflikte nur zwecks Mitgliederwerbung in die Länge. Dass ein großer Streik allerdings nur dann zustande kommen kann, wenn Organisationsgrad und Beteiligung im Betrieb hoch sind, mag er gar nicht hören. Andererseits erbost er sich über jene Kollegen, die mit seinem eigenen, allerdings enormen Arbeitspensum nicht mithalten können und immer wieder ermahnt werden müssen. Krähling hält dagegen, dass das nicht an der Faulheit der Mitarbeiter liege, sondern seine Gründe habe. Resignation, "innere Emigration", Krankheit, Depression seien in den Arbeitsstrukturen von Amazon angelegt.

Dass die Situation für Gewerkschafter "schwierig ist", hat er oft erfahren. Die Geschäftsleitung lastet die schlechte Berichterstattung der Medien auch ver.di an. Es gebe tatsächlich "viel Solidarität" für die Chefs. "Die Stimmung ist ein wenig gegen uns gekippt." Viele Mitarbeiter wollten nicht nur in "der Opferrolle" dargestellt werden: "Das will wirklich keiner." Die Mehrheit sei eher passiv: "Die Belegschaft ist gespalten in 1000 Splitter." Das könne schon bei "Schicht gegen Schicht" so sein: "Das System möchte das!"

Krähling ist in Borken, 50 Kilometer von seinem Arbeitsplatz entfernt geboren. Nach dem Wehrdienst studierte er Politik und Wirtschaftswissenschaft in Marburg und Heidelberg: "Nach dem fünften Semester habe ich gemerkt, dass aus mir kein Manager wird." Kurz vor dem Abschluss brach er ab, das erste von zwei Kindern war unterwegs: "Ich nahm jeden Job an." Auch den in einer Kartoffelfabrik: "Da waren Zustände wie im 19. Jahrhundert." Er war Leiharbeiter, schuftete in einem Bettenlager. Freizeit? Ein wenig Sport, Lesen, die Kinder. Amazon ist nur ein Ende der Fahnenstange.

Die Gewerkschaftsarbeit ist ihm fast zum Lebensinhalt geworden. Seit er bei Amazon aktiv ist, ist er mit seinen Kollegen ständig im Einsatz. Planung, Tagungen, Schulungen, Gespräche, Streiklieder schreiben, Flyer basteln, Aktionen organisieren. In das ver.di-Büro am Rand der Bad Hersfelder Altstadt sei Leben gekommen: "Wir leben fast in den Räumen hier. Manchmal, wenn es spät wird, wird hier auch übernachtet. Der graue Wandschrank enthält die Notausrüstung, Kaffee, Tee, Lebensmittel."

Treffpunkt ver.di Bad Hersfeld - dieses Mal zur Vorbereitung einer Aktion

An diesem Abend Anfang März verwandelt sich das Gewerkschaftsbüro einerseits in eine fröhliche Runde voller Ideen, andererseits aber auch in den Raum, in dem der angestaute Frust abgeladen werden kann, abgeladen werden muss. ver.di-Vertrauensperson Martin Schierl, 41, beschreibt das Sanktionssystem bei Amazon. Wohlverhalten wird mit Aufstieg in der Hierarchie belohnt. Der schlägt sich allerdings kaum im Gehalt nieder, sondern eher in der Berechtigung, andere Kollegen zu kontrollieren. Es herrsche "totale Kontrolle" per Handscanner: "Der Schichtleiter sieht alles." Kritik zum Beispiel an der aus den USA importierten Standardisierung habe Rückstufungen zur Folge. Das System Amazon funktioniere auch deshalb so gut, weil jeder befristet Beschäftigte auf eine Festanstellung hoffe. Die Chance darauf aber sei minimal und werde als entsolidarisierendes Druckmittel benutzt.

Der beste Peitschentreiber

Sein Kollege Frank Hüttenroth, 50, seit elf Jahren dabei und damit "Amazon-Urgestein", ist die Betriebsleiter bereits auf und ab geklettert. Das mache krank: "Da träumst du nachts von. Mir wurde vorgeworfen, ich sei zu nahe an den Mitarbeitern." Betriebsrätin Kata Grgić sagt zum Betriebsklima: "Die haben wirklich Angst." Das reiche bis ins Management, sei aber am ausgeprägtesten bei den neu befristet Eingestellten: "Die haben am meisten Angst. Die hoffen noch." Vertrauensmann Harald Schäfer, 51, sagt: "Der beste Peitschentreiber ist der Kollege nebenan. Das hat Amazon perfektioniert." Und: "Die bringen es so weit, das die Leute sich selber anklagen." Er wünscht sich eine starke, selbstbewusste Arbeitnehmerschaft: "Ein Streik, der nicht weh tut, ist kollektive Bettelei."

Christian Krähling ist sicher, dass sich der Einsatz bisher gelohnt hat. Seit gestreikt werde, sei Bewegung in den Betrieb gekommen. Der Bruttomonatslohn sei gestiegen, es werde Weihnachtsgeld gezahlt. Fast ein Drittel der Belegschaft sei inzwischen gewerkschaftlich organisiert: "Und der Dampf ist längst noch nicht raus. Aber wir brauchen einen langen Atem."

www.change.org/p/jeff-bezos-behandeln-sie-die-amazon-mitarbeiter-innen-fair