Seit knapp 20 Jahren ist die Frauenorganisation Kamer in den kurdischen Gebieten der Türkei aktiv. Sie bietet Frauen Hilfe in akuter Not, aber auch Hilfe zu langfristiger Selbsthilfe

Eine traditionelle Hochzeit in Diyarbakir

Die Anlaufstelle des Frauenzentrums Kamer in Diyarbakir, der größten kurdischen Stadt der Türkei, ist nur schwer zu finden. Diyarbakir ist in den letzten 20 Jahren geradezu explosionsartig gewachsen, außerhalb der traditionellen Altstadt sind große Neubaugebiete entstanden, deren Straßen oft nur nummeriert werden und sich in keinem Stadtplan wiederfinden. Irgendwo in dieser Neustadt befindet sich Kamer, auch außen am Haus weist kein Schild auf das Zentrum hin. Zu groß ist auch heute noch die Gefahr, dass das Büro von wütenden Männern angegriffen wird. Denn Kamer ist die größte und wichtigste Frauenorganisation in den kurdischen Gebieten der Türkei. Wenn eine Frau in ihrer Familie geschlagen wird, wenn junge Frauen zwangsweise verheiratet werden sollen oder gar mit dem Tode bedroht sind, weil sie angeblich die Ehre der Familie verletzt haben, dann ist Kamer die erste Adresse. Bei Kamer wird all diesen Frauen geholfen.

"Wir kümmern uns um jede Frau, die Hilfe sucht", sagt Aylin, die seit vielen Jahren im Frauenzentrum in Diyarbakir mitarbeitet. "Wir haben einige sichere Wohnungen, in denen sich Frauen, die bedroht werden, erst einmal verstecken können. Wir helfen ihnen, wenn sie bei der Polizei eine Anzeige erstatten wollen, und es gibt Rechtsanwältinnen, die die Frauen unentgeltlich beraten."

Der Bedarf an solcher Hilfe ist groß. Nach wie vor werden in der Türkei jedes Jahr hunderte Frauen von männlichen Familienmitgliedern ermordet, weil sie durch ihr Verhalten "die Ehre der Familie verletzt haben", wie es heißt. Weil sie sich weigern, einen Mann zu heiraten, den der Vater ausgesucht hat, oder sich ohne Erlaubnis des Vaters mit einem Mann getroffen haben. Diese sogenannten Ehrenmorde kommen überall in der Türkei vor, aber besonders häufig in traditionellen, sehr patriarchalisch ausgerichteten kurdischen Familien. Das hat zum einen damit zu tun, dass viele kurdische Familien noch in engen, stammesähnlichen Zusammenhängen im Dorf leben oder die Eltern in vielen Familien - auch wenn sie mittlerweile in den Städten leben, Analphabeten sind, an denen moderne gesellschaftliche Entwicklungen weitgehend vorbeigehen. Ein Grund ist aber auch der jahrzehntelange Krieg der türkischen Armee gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK, von dem fast jede Familie im Südosten der Türkei betroffen ist und durch den Gewalt für viele zur täglichen Erfahrung geworden ist. Die Folge davon ist eine zwischenmenschliche Verrohung, von der Frauen besonders häufig betroffen sind.

Aus eigener bitterer Erfahrung

Die konsequenteste Antwort auf diese Verrohung und täglich erfahrene Gewalt gibt Kamer. Die Gründerin und Seele der Frauenzentren, die sich mittlerweile auf insgesamt 23 Städte im kurdischen Südosten der Türkei ausgebreitet haben, ist Nebahat Akkoc. Die heute 59-Jährige hat Kamer nach eigenen schmerzlichen Erfahrungen im Jahr 1997 gegründet. Nebahat Akkoc ist eigentlich Lehrerin. Mehr als 20 Jahre hat sie in Diyarbakir und den Dörfern der Umgebung als Grundschullehrerin unterrichtet. Dabei war sie zunächst im linken Lehrerverband TÖB-DER aktiv, der nach dem Militärputsch 1980 verboten wurde. Nach dem Putsch erlebte die Türkei Jahre harter Repression gegen Gewerkschaften und linke oder soziademokratische Parteien. In den kurdischen Gebieten eskalierte die Gewalt noch zusätzlich, als die PKK 1984 die ersten Anschläge auf Militärposten verübte und damit ihren Kampf für ein selbstständiges Kurdistan eröffnete.

Nebahats Mann Zübeyir Akkoc wurde damals - wie viele andere - verhaftet und kam in das berüchtigte Militärgefängnis von Diyarbakir. Dort beobachtete sie zum ersten Mal hautnah die Probleme kurdischer Analphabetinnen, wie sie ihre Männer besuchen wollten, aber kein Türkisch konnten und deswegen von den Wachen misshandelt und ausgesperrt wurden. Später erlebte Akkoc die Gewalt des Staates auch am eigenen Leib, als sie selbst mehrfach verhaftet und gefoltert wurde. Als 1990, zehn Jahre nach dem Putsch, die früheren linken Gewerkschaften wieder zugelassen wurden, wurde sie sofort aktiv und übernimmt den Bezirksvorsitz von Egitim Sen, der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft, in Diyarbakir.

Doch 1993 ändert sich ihr bisheriges Leben radikal. Auf dem Weg zur Schule wird ihr Mann erschossen. Nebahat Akkoc verlässt daraufhin den Schuldienst und widmet sich ganz der Menschenrechtsarbeit. Sie wird Mitglied im Vorstand des Vereins İnsan Hakları Derneği, IHD, zu Deutsch Menschenrechtsverein.

Obwohl der Verein IHD keine spezifisch kurdische Organisation ist, wird die Nichtregierungsorganisation in den 90er Jahren zur wichtigsten Bastion für die Verteidigung der Menschenrechte der Kurdinnen und Kurden. Die erste Hälfte der 90er Jahre ist eine dunkle Zeit in der Türkei. Der Kampf zwischen der türkischen Armee und türkischen Nationalisten auf der einen und der PKK auf der anderen Seite wird mit aller Brutalität geführt. Wer verdächtigt wird, mit der PKK zusammenzuarbeiten, wird verhaftet oder gar ermordet. Aber auch die PKK bringt vermeintliche Abweichler um oder "bestraft" kurdische Dörfer, die mit der Armee kollaborieren.

Gegen die doppelte Unterdrückung der Frauen

Für die Frauen, sagt Nebahat Akkoc, war es eine Zeit der doppelten Unterdrückung: durch den Staat und durch die patriarchalischen Strukturen in den Familien. Sie entschied sich deshalb dafür, sich ganz auf die Unterstützung von Frauen zu konzentrieren. Nach mehrjähriger Vorbereitung gründet sie 1997 schließlich Kamer. Es ist die Abkürzung von Kadin Merkezi, was Frauenzentrum heißt. Anfangs begann Kamer mit nur wenigen Mitstreiterinnen, bedrohten Frauen zu helfen. Dabei ging es von Beginn an nicht nur um akute Nothilfe. Die Aktiven von Kamer überlegten vielmehr ebenso, wie sich Frauen aus der patriarchalen und ökonomischen Abhängigkeit befreien können. Das kam allerdings auch bei einem Teil ihres eigenen politischen Umfelds nicht gut an. Wer in solchen Zeiten häusliche Gewalt in kurdischen Familien anprangert, begehe Verrat am kurdischen Freiheitskampf, wurde Nebahat Akkoc vorgehalten. In einem Interview sagte sie: "Aber wenn der potentielle Mörder einer Frau ein Kurde war und türkische Polizisten dann für die Sicherheit der Frau sorgten, war das nicht unser Problem. Es ging uns doch um Hilfe für die Frau. Wir stießen dann zwar oft auf negative Reaktionen, kümmerten uns aber nicht darum."

Trotzdem konnte Kamer sich erst richtig entfalten, als in den Jahren nach 2010 die Kämpfe langsam abflauten und der Ausnahmezustand in den kurdischen Provinzen aufgehoben wurde. "Der Krieg hat die Frauen nicht befreit", sagt Nebahat Akkoc überzeugt. Doch als die Männer während der Kämpfe in den Bergen waren, mussten die Frauen sich zwangsläufig um alle Probleme des täglichen Lebens allein kümmern. Deshalb fielen die Vorschläge von Kamer bei ihnen auf fruchtbaren Boden. Die Organisation will weiterhin nicht nur Nothilfe für bedrohte Frauen anbieten, sondern vor allem Unterstützung zur Selbsthilfe. Um ökonomisch selbstständig zu werden, gründeten Frauen Restaurants, wurden Nähstuben eröffnet und Web-Ateliers eingerichtet, in denen Textilien hergestellt werden. Mit diesem Konzept ist Kamer in praktisch allen Städten im Südosten der Türkei vertreten. Aylin, die Mitarbeiterin in Diyarbakir, sagt, dass sie seit einiger Zeit nicht mehr nur mit Frauen, sondern auch mit Männern arbeiten. "Es gibt bei uns jetzt auch eine Männergruppe, in der über neues Rollenverhalten diskutiert wird. Schließlich müssen sich vor allem die Männer ändern, damit die Gewalt in den Familien endlich aufhört."

Bald 20 Jahre nach der Gründung von Kamer hat Nebahat Akkoc mit ihrer Initiative vieles erreicht. Auch durch die Arbeit dieser Organisation wird heute in der Türkei über Gewalt gegen Frauen diskutiert und berichtet. Die Zahl von bekannt gewordenen "Ehrenmorden" steigt zwar offiziell immer noch an, doch das, sagt Aylin, liege daran, dass es heute keine Dunkelziffer mehr gebe. Tatsächlich seien die Zahlen früher höher gewesen.

Und noch etwas ist nicht nur, aber auch ein Verdienst von Kamer: Frauen spielen in der kurdischen Politik heute eine wichtige Rolle. Die kurdischen Parteien BDP und HDP sind die einzigen Parteien im Land, die eine Frauenquote eingeführt haben. Die Parteispitze ist immer doppelt mit einer Frau und einem Mann besetzt. Und Oberbürgermeister von Diyarbakir, einer der wichtigsten Posten in der kurdischen Politik, ist heute eine Frau. Bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2014 löste die bis dahin als Ko-Vorsitzende der BDP aktive Gültan Kisanak den populären Politiker Osman Baydemir an der Spitze der wichtigsten kurdischen Kommune der Türkei ab.


Ehrung für Nebahat Akkoc

Nebahat Akkoc hat die Frauenorganisation Kamer gegründet. Am 6. März, zwei Tage vor dem Internationalen Frauentag, bekommt sie in Berlin den Anne-Klein-Frauenpreis 2015 von der Heinrich-Böll-Stiftung verliehen. Die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung erhält sie für ihren aktiven Widerstand gegen staatliche und häusliche Gewalt und für die Verteidigung der Rechte der Frauen.

Benannt ist der Preis nach der ersten feministischen Frauensenatorin in Berlin Anne Klein (1950-2011).

www.boell.de/anne-klein-frauenpreis