Ausgabe 03/2015
Coli-Bärbel und die Keime
Zuletzt hat das Uniklinikum Kiel Schlagzeilen gemacht: 31 Patienten hatten sich mit einem gefährlichen Keim infiziert, 14 von ihnen starben. Schwester Bärbel Franz sorgt als Hygienefachkraft am Vivantes Klinikum Berlin-Hellersdorf seit vielen Jahren dafür, das so etwas in ihrem Wirkungskreis nicht passiert. Ganz los werden sie die Keime aber auch in ihrem Krankenhaus nicht. Denn niemand, von der Reinigungskraft bis zur Chefärztin, darf einen Fehler machen - und sie dürfen nicht unterbesetzt sein
Zuletzt hat das Uniklinikum Kiel Schlagzeilen gemacht: 31 Patienten hatten sich mit einem gefährlichen Keim infiziert, 14 von ihnen starben. Schwester Bärbel Franz sorgt als Hygienefachkraft am Vivantes Klinikum Berlin-Hellersdorf seit vielen Jahren dafür, das so etwas in ihrem Wirkungskreis nicht passiert. Ganz los werden sie die Keime aber auch in ihrem Krankenhaus nicht. Denn niemand, von der Reinigungskraft bis zur Chefärztin, darf einen Fehler machen - und sie dürfen nicht unterbesetzt sein
von Heike Dierbach (Text) und Renate Koßmann (Fotos)
Die Gefahr lauert im Wasserhahn. Das Bad des Isolierzimmers sieht auf den ersten Blick einwandfrei aus. Doch vor dem Waschbecken hält Schwester Bärbel inne: "Das Wasser fließt vom Hahn direkt in den Abfluss. Das ist riskant." Eigentlich soll der Strahl zuerst in das Waschbecken gehen. Im Abfluss spritzt das Wasser, und es bilden sich Aerosole, kleinste Tropfen, die sich über die Luft verbreiten und Krankheitserreger mitnehmen. "Wenn sich dann jemand über das Waschbecken beugt, kann er sich infizieren." Aber dazu wird es nicht kommen. Denn Bärbel Franz, klein, drahtig, Kurzhaarschnitt, ist die Hygienefachkraft hier im Vivantes Klinikum Berlin-Hellersdorf. Ihre Aufgabe: Einen Schutzschild für über 400 Patienten aufbauen. Die meisten bemerken ihn gar nicht. Aber einigen rettet er das Leben.
Keime, die gegen Antibiotika resistent sind, sogenannte multiresistente Erreger (MRE), nehmen seit Jahren zu - nicht nur in Krankenhäusern, sondern überall im Gesundheitswesen. Ein Patient bringt sie unerkannt mit und überträgt sie auf andere, wenn nicht Fachkräfte wie Schwester Bärbel das verhindern. Gesunde merken das meist gar nicht, weil ihr Immunsystem den Keim in Schach hält. Doch für Schwerkranke ist er lebensgefährlich. Eine Übertragung, vor allem auf Intensivpatienten und Frühchen, muss deshalb unbedingt verhindert werden.
Aber es passiert trotzdem, immer wieder. Anfang Januar infizierten sich in der Uniklinik Kiel 31 Patienten mit einem besonders gefährlichen multiresistenten Bakterium - "Ausbruch" nennen das die Experten. Ein Urlauber, der aus der Türkei verlegt wurde, hatte den Erreger mitgebracht und war offenbar zu spät isoliert worden. 14 Patienten starben, davon mindestens drei direkt an den Folgen der Infektion und nicht an ihrer akuten Erkrankung. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Ein enormer Aufwand
Wie kann so etwas passieren, in einem Hochleistungssystem wie dem deutschen? Wird einfach geschlampt? Stehen Ärzte und Pflegekräfte zu sehr unter Stress? Eigentlich ist festgelegt, wie Krankenhäuser bei MRE-Risikopatienten vorgehen müssen (siehe Kasten). Doch eine Schicht mit einer Hygienefachkraft zeigt: Es ist ein enormer Aufwand. Eine MRE-Übertragung zu verhindern, erfordert Zeit, Material, Fachkenntnis und Disziplin. Niemand, von der Reinigungskraft bis zur Chefärztin, darf einen Fehler machen. In Hellersdorf hat es bisher noch keinen Ausbruch gegeben, sagt Schwester Bärbel: "Es ist mein großes Ziel, dass das so bleibt."
Alles keimfrei - ein Krankenzimmer wird überprüft und mit entkeimter Bettwäsche ausgestattet
An diesem Mittwochnachmittag öffnet die 63-Jährige die Tür zur unfallchirurgischen Station. Sie kommt unangekündigt, wie meistens. Eine Patientin mit resistenten Enterokokken wurde eingeliefert, Schwester Bärbel will prüfen, wie sie isoliert wird. Das Zimmer erkennt sie gleich, an einem grauen Wagen davor. "Unser Isowagen", sagt die Schwester, "da finden wir alles, was wir brauchen, um uns einzuschleusen." Bedächtig streift sie einen Ganzkörperkittel aus Papier über, legt Mundschutz und Haube an. Noch die Handschuhe - jetzt sieht sie fast wie eine OP-Schwester aus. "Ohne darf keiner ins Zimmer", sagt sie durch die Maske, "auch kein Besucher." Nervt es nicht, wenn man sich zehn Mal am Tag so einpacken muss? "Oh ja!", sagt Schwester Sarah, die stellvertretende Stationsleiterin, "vor allem, wenn es heiß ist oder wenn man gerade im Stress ist. Aber erst kommt die Hygiene, dann der Rest. Man darf nie nachlässig werden."
Doch genau das passiert offenbar in Kliniken mit schlechtem Personalschlüssel: "Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen Ausbrüchen von multiresistenten Erregern und einer Unterbesetzung der entsprechenden Station", sagt Prof. Klaus-Dieter Zastrow, Chefarzt für Hygiene bei Vivantes Berlin und Vorsitzender des Berufsverbandes der Deutschen Hygieniker. In Kiel scheiterte es an der Zimmeraufteilung: Die Intensivstation hatte gerade kein Einzelzimmer frei. Also legte man den Risikopatienten, obwohl sein Testergebnis noch ausstand, neben zwei andere, auch schwer kranke Patienten. Für Zastrow ein Unding: "Wenn alle Einzelzimmer belegt sind, muss man eben ein Zweibettzimmer räumen. Notfalls auch ein Vierbettzimmer."
Doch manche Klinikleitungen legen dagegen immer wieder ein Veto ein, glaubt man den Berichten von Ärzten und Schwestern. Eine Bettensperrung bedeutet Einnahmeverlust. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft wollte zu dem Thema MRE gegenüber ver.di publik nicht Stellung nehmen.
Kein Staubkörnchen, nirgends
Schwester Bärbel öffnet die Tür zum Isolierzimmer. Ihr erster Blick fällt auf den Tisch am Fenster. Ist alles nötige Material vorhanden? Spray, Thermometer, Schere - MRE-Patienten brauchen alles extra, denn über die Instrumente könnten die Keime leicht zu anderen Patienten wandern. Stehen Desinfektionstücher griffbereit? "Die Dose muss jeden Tag erneuert werden." Schwester Bärbel streicht mit dem Finger über den Nachttisch - kein Staubkörnchen. Die Patientin bekommt vom Besuch ihres Schutzengels nicht viel mit, sie ist stark dement.
Rund zehn Minuten geht Schwester Bärbel durchs Zimmer, zieht die Schubladen auf, greift hinter die Sitzpolster, wischt über die Fußleisten, wirft einen Blick auf den Filter der Lüftung im Bad. "Außer dem Wasserhahn gibt es hier nichts zu beanstanden." Fertig. Jetzt einfach wieder raus? "Auf keinen Fall!" Kittel, Haube und Mundschutz müssen im Zimmer abgenommen werden. "Sonst würde ich die Keime darauf mitnehmen." Schwester Bärbel steckt alles in einen großen fahrbaren Mülleimer, Abwurfbehälter genannt. Dann viel Desinfektionsmittel auf die Hände und 30 Sekunden reiben. "So, jetzt dürfen wir raus." Hygiene ist eine Materialschlacht.
Auf dem Gang trifft sie Schwester Sarah. Die wirkt entspannt. Keine Bedenken wegen der unangemeldeten Kontrolle? Sarah lächelt: "Das gehört dazu. Es ist für uns auch eine wichtige Rückmeldung, ob wir alles beachtet haben." Fehler muss man ansprechen, sagt Bärbel: "Aber ich suche dann immer gemeinsam mit dem Betroffenen nach einer Lösung." Zu viel Angst vor MREs bringt auch nichts. "Dann werden die Leute nervös und machen erst recht Fehler." Hygiene ist Feingefühl. "Coli-Bärbel" nennen die Kolleginnen und Kollegen sie manchmal liebevoll - nach dem Bakterium Escherichia Coli.
Coli-Bärbel will nun noch ins Stationszimmer. Zielstrebig öffnet sie den Schrank mit den Medikamenten. "Die Zimmer sind auf allen Stationen identisch eingerichtet. So findet sich auch eine Vertretung schnell zurecht." Und macht weniger Fehler. Ein Blick auf die Verfallsdaten der Packungen - alles frisch. Theoretisch kann hier nichts überaltern, die Stationen bestellen immer nur so viel, wie sie für die nächsten Tage brauchen. Auch bei neuen Möbeln redet Schwester Bärbel mit: "Ich muss darauf achten, dass sie gut zu desinfizieren sind." Hygiene ist Planung.
Ein Restrisiko bleibt
Seit 1974 arbeitet Bärbel Franz in Hellersdorf. Auf ihre Klinik lässt sie nichts kommen: "Wir machen hier wirklich in der Hygiene alles, was möglich ist." Aber trotzdem kam es im vergangenen Jahr vier Mal zu einer Übertragung des häufigsten Keims Methicillinresistenter Staphylococcus aureus (MRSA). Das war nicht gefährlich, weil nur jeweils ein Patient betroffen war und der Keim sofort bekämpft wurde. "Die Null kann man nicht erreichen", sagt Bärbel. Dafür bräuchte die Schwester Hilfe von der Politik.
Jedes Isolierzimmer mit Patienten, die einen Keim haben, darf nur in voller Montur betreten werden.
Die Krankenkassen bezahlen ein MRE-Screening nur für Risikogruppen. Normalpatienten werden nicht untersucht - tragen aber zu einem gewissen Prozentsatz ebenfalls unerkannt einen MRE auf der Haut (siehe Kasten). "Das führt dann zu einzelnen Übertragungen, die man nicht verhindern kann", sagt Chefhygieniker Zastrow, "dafür müsste man wirklich alle Patienten untersuchen." Ein MRE-Schnelltest kostet 37 Euro, das wären für alle Krankenhausaufnahmen 700 Millionen Euro pro Jahr. Weil das zu viel erscheint, akzeptiert man ein Restrisiko. Das Gesundheitsministerium prüft gerade, ob zumindest bei geplanten Klinikaufenthalten alle Patienten schon vorher untersucht werden sollen.
Für Zastrow wäre schon viel gewonnen, wenn alle Kliniken die Risikopatienten konsequent screenen und isolieren würden: "Mit den gegebenen Mitteln und auch mit der Finanzierung ist das problemlos machbar." Außerdem müsse bei Ausbrüchen schneller reagiert werden: "Zwei, drei Infektionen kann es mal geben. Aber nicht zehn, zwölf. Dann hat der Keim eindeutig zu viel Zeit gehabt, sich auszubreiten."
Schwester Bärbel ist fertig mit ihrem Rundgang. Feierabend hat sie noch nicht. Die Arbeit geht an ihrem Schreibtisch weiter. Über die Begehung des Isolierzimmers muss ein Bericht geschrieben werden. "Der geht dann an die Stationsleitung, den Reinigungsdienst und an den Hygiene-Chefarzt, damit alle wissen, wie der Zustand ist." Sie führt auch Listen mit MRE-Infektionen, prüft, ob die Kolleg/innen regelmäßig an den Schulungen teilgenommen haben. Zwei Mal im Jahr muss das jede/r, das wird in einen persönlichen Hygienepass eingetragen.
In ihrem Mailfach am Computer poppt eine Nachricht auf: Eine junge Schwester fragt, ob Bärbel morgen früh um sieben bei einem Verbandswechsel bei einem MRE-Patienten zusehen kann. Sie will kontrollieren lassen, ob sie alles richtig macht. "Es kommt oft vor, dass mich die Stationen von sich aus anfordern", sagt Bärbel. Sie sagt sofort zu.
Draußen dämmert es, Schwester Bärbel fährt den Computer herunter. Oben auf der unfallchirurgischen Station wird gerade das Abendessen ausgeteilt. In das Isolierzimmer werden die Schwestern als letztes gehen. Keiner der anderen Patienten muss Angst haben, dass der MRE-Keim zu ihm wandern könnte. Dafür sorgt Bärbel Franz, die Grande Dame der Hygiene in Hellersdorf - und jede Schwester, jede Reinigungskraft. Sorgfältig, mit Fachkenntnis und ohne Hektik. Der Schutzschild steht.
Gefährliche Keime – nachlässige Kliniken
Multiresistente Erreger (MRE) bezeichnen eine ganze Gruppe von Keimen. Die häufigsten sind MRSA (Methicillinresistenter Staphylococcus aureus) und ESBL (Extended-Spectrum-Beta-Laktamase produzierende Erreger). 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung tragen dauerhaft einen MRSA-Keim, allerdings nur auf der Haut und Schleimhaut. Eine solche "Besiedelung" verläuft bei Gesunden unbemerkt und beschwerdefrei. Gelangt der Keim aber in den Körper, zum Beispiel bei einer Operation, kann er schwere Komplikationen wie Lungenentzündung und Blutvergiftung verursachen. Erst dann sprechen Mediziner von einer "Infektion" mit MRE.
Das Vorgehen gegen MRE in Kliniken ist in Deutschland durch eine Expertengruppe beim Robert-Koch-Institut festgelegt worden. Die Kliniken sind gesetzlich verpflichtet, alle Risikopatienten bei der Aufnahme zu untersuchen. Bis das Ergebnis vorliegt, müssen sie sie isolieren, um andere Patienten zu schützen. Zur Risikogruppe gehören Patienten, die mit Antibiotika behandelt wurden, die im vorangegangenen Jahr länger im Krankenhaus waren, die aus einer Klinik im Ausland kommen oder aus Einrichtungen mit einem hohem MRE-Risiko wie Seniorenheimen oder Dialysezentren. Aber nicht in allen Kliniken wird das konsequent umgesetzt. Experten schätzen, dass sich jährlich 950.000 Patienten im Krankenhaus mit einem MRE infizieren, bis zu 40.000 sterben daran. Die Krankenhausleitungen beklagen, dass sie den erhöhten Aufwand, der durch einen MRE-Patienten entsteht, nicht voll bezahlt bekommen.
Studien haben gezeigt, welche Faktoren das Risiko erhöhen, dass das Personal bei der Hygiene einen Fehler macht. Ungünstig sind demnach eine Unterbesetzung der Station, mangelnde Ausbildung oder die fehlende Motivation durch Vorgesetzte. Männer sind statistisch eher nachlässig als Frauen, Ärzte eher als Pfleger. Fachleute fordern bereits länger, Patienten nicht erst im Krankenhaus auf MRE zu untersuchen. Das spart die teure Isolierung in der Klinik: Der Patient bleibt einfach so lange zu Hause, bis er vom Keim kuriert ist. Das würde auch ihn selbst davor schützen, dass der Keim bei einer OP von der Haut in den Körper gelangt.
Der ver.di-Fachbereich hat eine eigene Broschüre zum Thema Krankenhausreinigung herausgegeben. Zum downloaden unter www.gesundheit-soziales.verdi.de/branchen/servicebereiche