Solidarität mit der Liebe

Tocotronic: Rotes Album - Die Popmusik kennt, seien wir ehrlich, eigentlich nur drei große Themenkomplexe: Liebe, Liebe und noch mal Liebe. Da darf man sich fragen, was Tocotronic glauben, in dieser Sache der Welt noch mitzuteilen zu haben. Denn das neue Album, das eigentlich keinen Titel besitzt, aber aufgrund seines einfarbigen Covers als Rotes Album in die Geschichte der Band eingehen wird, ist nicht weniger, so verkündet es Dirk von Lowtzow im Interview, als ein "Kompendium über die Liebe".

In diesem klingenden Nachschlagewerk finden sich nun - das muss man wissen - keine Liebeslieder. Sondern eben Lieder über die Liebe. Über die Liebe zu anderen und zu sich selbst. Lieder über die Liebe als Segen und Lieder über die Liebe als Fluch, über die Liebe als Heilung, aber auch als Gefängnis. Schöne Lieder, die mit berauschenden Melodien in ihren Bann ziehen, mit federleichten, an die größten Tage des Pop angelehnten Arrangements und mit einer Sprache, die geheimnisvoll und irritierend von etwas erzählt, was man nur allzu gut zu kennen glaubt - aber in von Lowtzwos Reimen doch immer wieder neu und rätselhaft erscheint.

Doch Tocotronic wären nicht die einzige Band der einstigen Hamburger Schule, die den überintellektualisierten Diskurs-Pop in größeren kommerziellen Erfolg verwandeln konnte, würden sie dem Thema Liebe nicht auch überraschende Aspekte abgewinnen. Nach dem Vorgängeralbum, das schon im Titel die programmatisch verhandelte Frage Wie wir leben wollen stellte, hat man nun, so beschreibt es der mittlerweile 44-jährige von Lowtzow, den Blick auf einen Sachverhalt verengt, um ihn erst recht in die Weite schweifen lassen zu können. So geht es darum, ob die Liebe sogar die Schwerkraft überwinden kann und ob man auch den Hass tanzen kann. Es geht um den Rebel Boy, der seine Faust ballt und die Revolution ausruft, für die Freiheit kämpft und dann doch in die Liebe flüchtet: "Kannst Du mir Liebe geben?", singt von Lowtzow. "Kannst Du mich befreien?" So entsteht ein "Assoziationsraum", wie der Sänger ihn nennt, in dem man sich ebenso verlieren kann wie in der Musik.

Eine ganz andere Liebe, die, so von Lowtzow, "politische Form der Liebe", besingt er dann noch in Solidarität. Ein Lied, das aufgrund seiner kryptischen Dimension wohl nicht als neue Hymne der Arbeiterbewegung taugt, aber doch den Status stützt, den sich Tocotronic seit ihrer Gründung 1993 erspielt haben: Die einzige deutsche Band zu sein, die in der Lage ist, selbst der Liebe eine politische Dimension abzugewinnen. Und daraus dann auch noch große Popmusik zu destillieren.Thomas Winkler

CD, VERTIGO BERLIN/UNIVERSAL


Wire: Wire - Es gibt wohl keine Rockband, deren Bedeutung sich dermaßen diametral zu ihrem kommerziellen Erfolg verhält. Wire haben den Postpunk erfunden, gelten als Initiatoren des modernen Avantgarde-Rocks, werden geliebt von Musikern wie Blur-Mastermind Damon Albarn und noch heute von jeder zweiten Band als prägender Einfluss genannt. Platten verkauft hat die 1976 in London gegründete Band trotzdem so gut wie keine - und das wird sich auch mit ihrem 13., schlicht Wire betitelten Studioalbum nicht ändern. Zu sperrig sind die aufgetürmten Klanggebirge, zu widerborstig die seltenen Melodien, zu monoton der pulsierende Beat. Im Vergleich zu ihren Anfangstagen mag das Quartett zwar geradezu eingängig klingen, aber immer noch entwickeln die dunkel dräuenden Stücke eine unheimliche, meditative Kraft. Ohne Unterlass bohrt sich der Rhythmus in den Magen, während Colin Newman seine gewohnt hellsichtigen Texte zwischen banalen Alltagsbeobachtungen und psychotischen Gesellschaftsanalysen singt. Schon lange nicht mehr hat eine so alte Band eine so lebendige Platte veröffentlicht. Thomas Winkler

CD, PINK FLAG/CARGO RECORDS


Savina Yannatou & Primavera En Salonico: Songs Of Thessaloniki - Die neue CD der griechischen Sängerin Savina Yannatou und ihres Ensembles Primavera En Salonico ist eine Hommage an Savina Yannatou‘s Heimatstadt, an Thessaloniki. Die nordgriechische Hafenstadt war vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert die Heimat verschiedenster Ethnien - darunter sephardische Juden, Bulgaren, Türken und Armenier. Die politischen und sozialen Verhältnisse, Ausgrenzung und Vertreibung in ihren jeweiligen Heimatländern haben sie in Thessaloniki angespült. Sie alle haben zum speziellen Kultur-Mix der Region beigetragen. Savina Yannatou spürt dieser kulturellen Vielschichtigkeit auf ihrer neuen CD nach. Dabei kann sie sich auf die Qualität ihres Ensembles stützen, das seit 20 Jahren zusammen spielt. Und auf einen Sound, der mit seiner Verbindung aus westlichen (Violine, Akkordeon, Kontrabass) und orientalischen (Oud, Qanun, Nay) Instrumenten fasziniert. Das macht Yannatou‘s Musik einzigartig. Und es zeigt auch, wie sich Migration auf den Verlauf musikalischer Entwicklungen auswirkt. Peter Rixen

ECM


Bass Sultan Hengzt: Musik wegen Weibaz - Sensibilität ist die neue Härte. Auf diesen, erst einmal recht seltsamen Gedanken kann man kommen, wenn man das neue Album von Bass Sultan Hengzt hört. Der Berliner Rapper, der seine Karriere einst an der Seite von Bushido begann und bislang eher mit muskelstrotzenden Reimen auffällig geworden ist, legt mit Musik wegen Weibaz ein irritierend vielschichtiges Werk vor. Das beginnt beim Cover für eine spezielle Premium-Edition des Albums in limitierter Auflage, auf dem sich zwei Männer küssen und das in der zur Homophobie neigenden HipHop-Szene bereits für solch einen großen Aufruhr gesorgt hat, dass Fabian Cataldi, wie der Rapper eigentlich heißt, die virale Erregung mit einem klaren Bekenntnis gegen Diskrimierung kontern musste. Und das hört mit Musik und Texten noch lange nicht auf: Der ansonsten im deutschen Gangsta-Rap vorherrschenden Bollerei werden elegante, tatsächlich feminine Beats, Samples alter Schlager oder schicke Gitarren-Licks entgegengesetzt. Darüber stellt Bass Sultan Hengzt immer wieder das eigene Image in Frage, hinterfragt Sexismus und Machogehabe. "Jeder Kopf aus Stein trifft irgendwann ‘nen festeren", rappt der einst so harte Rapper - und es klingt kein bisschen resigniert, sondern eher erleichtert. Thomas Winkler

CD, NO LIMITS/SOULFOOD