Yessika Hoyos, Tochter eines 2001 ermordeten kolumbianischen Gewerkschafters, will nicht nur den Mord an ihrem Vater, sondern auch den an vielen anderen Gewerkschaftsmitgliedern aufklären. Dabei geht es der Anwältin vor allem um die Wahrheit. Für sie eine Basis für den Erfolg des Friedensprozesses, der derzeit zwischen der FARC-Guerilla und der Regierung ausgehandelt wird

von Knut Henkel

Die gläsernen Schiebetüren der Gepäckhalle des Flughafens von Bogotá gleiten zur Seite. Fabio Arias Giraldo schlendert, einen Rollkoffer hinter sich herziehend, an den Sicherheitsbeamten vorbei in die Ankunftshalle. Er ist tief versunken ins Gespräch mit einer Frau: "Die Schulen sind die richtige Idee zum jetzigen Zeitpunkt", sagt der Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbandes CUT und bleibt unter der Anzeigentafel stehen. Auf der leuchtet noch der Flug aus Bucaramanga, mit dem die beiden gerade in Kolumbiens Hauptstadt angekommen sind.

Bucaramanga liegt im Nordosten des Landes. Dort haben die zwei auf einem Seminar mit Wissenschaftlern und Gewerkschaftsspezialisten ein Konzept für sogenannte Friedensschulen entwickelt. "Sie sind das Instrument, um den Friedensprozess zwischen der FARC-Guerilla und der kolumbianischen Regierung in Havanna zu begleiten. Wir wollen unsere Mitglieder und die interessierte Zivilgesellschaft informieren, was dort passiert. In Bogotá kommt einfach viel zu wenig an", sagt Fabio Arias Giraldo. An diesem Punkt wollen die Gewerkschaften ansetzen. Sie hoffen auf den Erfolg der Friedensverhandlungen, auf einen demokratischen Neustart und auf kollektive Wiedergutmachung.

Die Wahrheit ist nicht verhandelbar

Letztere ist für Kolumbiens Gewerkschaften überaus wichtig, denn kaum eine andere zivile Organisation ist derart in den Fokus des Terrors geraten wie die Gewerkschaften. "Mitte der 1980er Jahre waren rund vierzehn Prozent der Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert, heute sind es wenig mehr als vier Prozent", sagt Arias Giraldo und fährt sich seufzend durch das dunkelbraune, gescheitelte Haar. Die CUT wünscht sich ein offizielles Bekenntnis zur gesellschaftlichen Bedeutung der Gewerkschaften, Unterstützung beim Aufbau neuer Strukturen und mehr Engagement bei Aufklärung und Strafverfolgung von der Regierung, denn die Zahlen sind Ausdruck einer beispiellosen Verfolgung. Fast 3000 organisierten Arbeitern und Arbeiterinnen kostete sie in den vergangenen 35 Jahren das Leben.

Yessika Hoyos - Anwältin für die gerechte Sache

Einer davon war Jorge Dairo Hoyos, der Vater von Yessika Hoyos, die Frau an Arias Giraldos Seite im Flughafen von Bogotá. Die Juristin arbeitet für die renommierte Menschenrechtskanzlei "Colectivo de Abogados José Alvear Restrepo" - sie hat sich spezialisiert auf Angriffe gegen Gewerkschaftsmitglieder. Rund 40 Fälle stapeln sich derzeit auf ihrem Schreibtisch im Avianca-Hochhaus im Zentrum von Bogotá. Wenn sie außerhalb zu tun hat, wie jetzt, holt sie normalerweise eine schwarze Limousine der Kanzlei vom Flughafen ab und fährt sie in den Süden der Stadt, wo sie mit ihrem Mann und der gemeinsamen kleinen Tochter lebt. Heute steht die Limousine nicht am Ausgang und so verabschiedet sie sich von CUT-Generalsekretär Giraldo, übernimmt den Rollkoffer von ihm und winkt ein gelbes Taxi heran.

20 Minuten dauert es, dann nähert sich der gelbe Kleinwagen der Straße, wo Yessika Hoyos wohnt. Einen Block vorher lässt sie den Fahrer halten, bezahlt und steigt aus. Mit einem kurzen Blick über die Schulter vergewissert sie sich, dass er ihr nicht die letzten drei- oder vierhundert Meter bis zum Haus folgt, um herauszubekommen, wo die Anwältin mit den mittellangen, kastanienfarbenen Haaren wohnt. Puh, auch das ist geschafft. Sie stapft die fünf Stockwerke zu ihrer Wohnung zügig hoch und begrüßt Ehemann Nicolás Escandón. Der kennt den Alltag seiner Frau und teilt ihn, denn genau wie sie vertritt er die hoffnungslosen Fälle: Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Aufklärungsquote: 3 bis 7 Prozent

Von denen werden in Kolumbien nur wenige aufgeklärt. Die Quote liegt, je nach Straftat, zwischen drei und sieben Prozent. Alles andere als rosige Erfolgsaussichten, doch die hat Yessika Hoyos auch nie erwartet. Die Frau mit dem ovalen Gesicht und dem ansteckenden Lachen ist eine Kämpferin. Schon in der weiterführenden Schule, als Teenager, hat sie ihre erste Studentenorganisation gegründet und sich für faire Bedingungen für alle engagiert. "Damals hat mich mein Vater beraten - bei der Moderation von Konflikten, bei den Verhandlungen und Organisationsfragen", sagt sie und lächelt versonnen. Von ihm habe sie das Organisationstalent, die offene Art und die Unbekümmertheit, von ihrer Mutter, einer Lehrerin mit langjähriger Gewerkschaftsgeschichte, die Energie und Beharrlichkeit.

Der Fluch der Bedrohung

Fast 3000 Morde an Gewerkschaftern hat Kolumbiens Nationale Gewerkschaftsschule (ENS) seit Ende der 1970er registriert. In den letzten Jahren ist die Zahl der Morde deutlich zurückgegangen. Während Mitte der 1990er Jahre noch mehr als 200 Gewerkschafter pro Jahr Attentätern zum Opfer fielen, sind es in den vergangenen Jahren 20 bis 30 Morde gewesen.

Wie verheerend schon die Morddrohungen sind, dazu hat die Gewerkschaftsschule jüngst eine Studie herausgegeben. Sie können, so zeigt ein Beispiel aus der Kleinstadt Amagá bei Medellín, eine Gewerkschaft binnen weniger Wochen aller Mitglieder berauben. Drohungen sind heute das wichtigste Instrument der massiven Einschüchterungsstrategie, die gegen die Gewerkschaften in Kolumbien geführt wird. 45,72 Prozent der dokumentierten Delikte gegen Gewerkschaftsmitglieder sind Drohanrufe, -mails und -tweets. Doch trotz der anhaltenden Verfolgung ist die Mitgliederzahl der Gewerkschaften in den letzten vier Jahren von 810.000 auf 950.000 geklettert. Ein Erfolg, der, so die ENS-Verantwortlichen, auch auf die massive internationale Unterstützung zurückzuführen ist - auch der von ver.di.

Beides braucht die in Fusagasugá, einer Kreisstadt südöstlich von Bogotá, aufgewachsene Frau. 17 Jahre war sie, als sie die Nachricht von der Ermordung ihres Vaters erreichte. In Bogotá, wo sie gerade das Jura-Studium aufgenommen hatte. Für mehr Gerechtigkeit in Kolumbien wollte sie eintreten - und daran haben die beiden Killer, die sieben Kugeln auf Jorge Dairo Hoyos abfeuerten, nichts geändert. Schon damals, wenige Tage nach dem Mord, pochte sie in einem Interview auf Gerechtigkeit und mahnte, nicht auch diesen Mord der Straflosigkeit zu überlassen. "Das hat den Hintermännern gar nicht geschmeckt. Wenig später gingen die ersten massiven Drohungen ein, und meine Mutter musste mit meiner drei Jahre jüngeren Schwester nach Bogotá flüchten", sagt sie mit leiser Stimme. Dann nimmt sie ihre auffällige rosafarbene Brille ab und fährt sich über die müden Augen.

Gerechtigkeit hat es im Fall Jorge Dairo Hoyos bis heute nicht gegeben. Zwar wurde ein Polizist namens Carlos Alberto Monroy wegen des Mordes verurteilt, allerdings war der schon vor der Urteilsverkündung verstorben. Ablenkungsmanöver, die es nicht nur in Kolumbien gibt und die die Anwälte auf falsche Fährten locken sollen. Das hat nicht funktioniert, denn die Familie Hoyos ließ sich von den versierten Anwälten des "Colectivo de Abogados Javier Alvear Restropo" vertreten. Die ersten Schritte in der Ermittlungsarbeit hat Yessika Hoyos dort mit gerade 18 Jahren an der Seite von Alirio Uribe, dem langjährigen Leiter der Kanzlei, gemacht.

Das "Centro de Memoria, Paz y Reconciliación", das Zentrum der Erinnerung, des Friedens und der Versöhnung in Bogotá

Später, nach dem Examen, war sie immer öfter allein verantwortlich. So auch bei der Verurteilung des Rektors der Universität von Montería. Dort hatten Paramilitärs Ende der 90er Jahre das Kommando übernommen und mehr als zwei Dutzend organisierte Angestellte, Professoren, Dozenten und Verwaltungsangestellte ermordet. Mitverantwortlich dafür war der Rektor, der schließlich als einer der Auftraggeber verurteilt wurde. "So etwas ist selten in Kolumbien. Bis heute weiß ich nicht, wer den Mord an meinem Vater in Auftrag gegeben hat", sagt Yessika Hoyos. Im Berufsalltag pendelt die Anwältin zwischen dem Bunker, so wird das trutzige Gebäude der Staatsanwaltschaft genannt, dem Justizkomplex Paloquemao, ihrem Büro und den Gewerkschaftseinrichtungen hin und her. Und neben ihrer Arbeit besucht sie noch die Universität, um sich in internationaler Politik weiterzubilden.

Erinnern, Aufklären, Mahnen

"Das hilft, um Zusammenhänge zu verstehen, Seilschaften aufzuspüren und den Horizont zu erweitern", sagt sie am nächsten Tag am Eingang zur Universität und winkt ein Taxi heran. Zielstrebig und mutig ist sie. Im Juli 2008, mit 23 Jahren und direkt nach der Prüfung fürs Jura-Staatsexamen, marschierte sie ins Gefängnis und stellte einen der beiden Killer zur Rede. "Ich wollte endlich wissen, wer die Auftraggeber für den Mord an meinem Vater waren", sagt sie mit fester Stimme. Der Killer, damals 27 und somit kaum älter als sie, gab ihr schließlich ein paar Hinweise.

Yessika Hoyos im Gespräch

Die führten zum Bataillon in Fusagasugá und zu den Paramilitärs - wie in so vielen anderen Fällen. "Das ist nur ein Teil der ganzen Wahrheit, aber für mich ist die Wahrheit wichtiger als die Bestrafung - ich will wissen, wer meinen Vater auf dem Gewissen hat", sagt Yessika Hoyos und steigt aus dem Taxi vor dem "Centro de Memoria, Paz y Reconciliación". Das Zentrum der Erinnerung, des Friedens und der Versöhnung ist einer der bisher wenigen Orte in Kolumbien, wo Angehörige sich erinnern, trauern, aber auch recherchieren können.

So haben Frauenorganisationen dort eine Ausstellung mitkonzipiert, mit der sie für ein Ende der Gewalt und den Neuaufbau ziviler Strukturen eintreten. Eine Ausstellung über die Gewalt gegen Gewerkschafter und deren gesellschaftliche Funktion ist in dem Museumsgebäude, welches auf einem alten Friedhofsareal eingerichtet wurde, nach Yessika Hoyos' Meinung gut aufgehoben. Erinnern, aufklären, mahnen, damit sich die Geschichte nicht wiederholt, das ist für die streitbare Anwältin und Gewerkschafterin mindestens so wichtig wie die Strafverfolgung. Dafür hat sie gemeinsam mit zahlreichen Mitstreiter/innen eine Opfer-Organisation gegen das Vergessen gegründet. Und als eine der wenigen Opfervertreterinnen war sie in Havanna, um den FARC-Unterhändlern und den Regierungsvertretern über den Mord an einem Gewerkschafter zu berichten - ihrem Vater.

"Krieg ist nicht unser Name" - ein Quilt für die Opfer

Hoffnung auf einen Neuanfang

Ansichten, die an der Gewerkschaftsschule (ENS) in Medellín geteilt werden. Dort laufen alle Informationen über Gewalt gegen Gewerkschafter bei Leidy Sanjuan und Viviana Colorado in der Abteilung Menschenrechte zusammen. Sie forschen, analysieren und informieren - zwischenzeitlich sogar in enger Kooperation mit der Staatsanwaltschaft. "Doch das ist aufgrund von Personalwechseln wieder eingeschlafen", sagt Leidy Sanjuan. Auch sie ist bei dem Projekt "Friedensschulen" mit dabei. Sie wird dort über Schutzmechanismen und Menschenrechtsarbeit der ENS berichten und gemeinsam mit ENS-Kollegen die Ergebnisse der Verhandlungen zwischen FARC-Guerilla und Regierung unter die Lupe nehmen. So zum Beispiel auch die jüngste Vereinbarung, unmittelbar nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages eine Wahrheitskommission zu installieren.

"Für die Opfer ist das eine gute Nachricht. Eine Wahrheitskommission kann ein Beitrag für einen stabilen und dauerhaften Frieden sein", sagt Yessika Hoyos. Und vielleicht - so ihre stille Hoffnung - kommt dabei auch etwas Neues über die Drahtzieher des Mordes an ihrem Vater heraus.

Gewerkschafter bringt Ölmulti BP vor Gericht

Am 29. Mai 2015 hat in Großbritannien ein Prozess gegen den britischen Energiekonzern BP wegen mutmaßlicher Verwicklung in die Entführung und Folterung eines Gewerkschaftsführers in Kolumbien begonnen. Der ehemalige Aktivist der kolumbianischen Erdölarbeitergewerkschaft USO, Gilberto Edgar Torres, hatte das Unternehmen vor einem Gericht in London auf Schadensersatz verklagt. Über den Fall berichtet fortlaufend das Lateinamerika-Portal amerika21.

Torres war im Februar 2002 in Casanare im Osten Kolumbiens von Paramilitärs entführt und gefoltert worden. Nach 42 Tagen wurde er aufgrund von starkem internationalen Druck und einem wochenlangen Streik der USO freigelassen. Torres klagt gegen BP wegen Komplizenschaft bei dem Verbrechen. Nach Auskunft seiner Anwälte ist dies das erste Mal, dass ein Gewerkschafter einen Öl-Multi wegen Menschenrechtsverletzungen vor das Oberste Gericht bringt. Der Fall könnte den Weg frei machen für ähnliche Klagen.

https://amerika21.de/2015/05/123098/klage-gegen-bp-london

Der Fluch der Bedrohung

Fast 3000 Morde an Gewerkschaftern hat Kolumbiens Nationale Gewerkschaftsschule (ENS) seit Ende der 1970er registriert. In den letzten Jahren ist die Zahl der Morde deutlich zurückgegangen. Während Mitte der 1990er Jahre noch mehr als 200 Gewerkschafter pro Jahr Attentätern zum Opfer fielen, sind es in den vergangenen Jahren 20 bis 30 Morde gewesen.

Wie verheerend schon die Morddrohungen sind, dazu hat die Gewerkschaftsschule jüngst eine Studie herausgegeben. Sie können, so zeigt ein Beispiel aus der Kleinstadt Amagá bei Medellín, eine Gewerkschaft binnen weniger Wochen aller Mitglieder berauben. Drohungen sind heute das wichtigste Instrument der massiven Einschüchterungsstrategie, die gegen die Gewerkschaften in Kolumbien geführt wird. 45,72 Prozent der dokumentierten Delikte gegen Gewerkschaftsmitglieder sind Drohanrufe, -mails und -tweets. Doch trotz der anhaltenden Verfolgung ist die Mitgliederzahl der Gewerkschaften in den letzten vier Jahren von 810.000 auf 950.000 geklettert. Ein Erfolg, der, so die ENS-Verantwortlichen, auch auf die massive internationale Unterstützung zurückzuführen ist - auch der von ver.di.

Gewerkschafter bringt Ölmulti BP vor Gericht

Am 29. Mai 2015 hat in Großbritannien ein Prozess gegen den britischen Energiekonzern BP wegen mutmaßlicher Verwicklung in die Entführung und Folterung eines Gewerkschaftsführers in Kolumbien begonnen. Der ehemalige Aktivist der kolumbianischen Erdölarbeitergewerkschaft USO, Gilberto Edgar Torres, hatte das Unternehmen vor einem Gericht in London auf Schadensersatz verklagt. Über den Fall berichtet fortlaufend das Lateinamerika-Portal amerika21.

Torres war im Februar 2002 in Casanare im Osten Kolumbiens von Paramilitärs entführt und gefoltert worden. Nach 42 Tagen wurde er aufgrund von starkem internationalen Druck und einem wochenlangen Streik der USO freigelassen. Torres klagt gegen BP wegen Komplizenschaft bei dem Verbrechen. Nach Auskunft seiner Anwälte ist dies das erste Mal, dass ein Gewerkschafter einen Öl-Multi wegen Menschenrechtsverletzungen vor das Oberste Gericht bringt. Der Fall könnte den Weg frei machen für ähnliche Klagen.

https://amerika21.de/2015/05/123098/klage-gegen-bp-london