Ausgabe 02/2016
Der Beste Club der Welt
Der beste Club der Welt
Der Seemansclub Duckdalben im Hamburger Hafen ist die Anlaufstation für Seeleute aus aller Herren Länder. In den nur wenigen Stunden Landgang, den sie haben, besteht dort oft die einzige Möglichkeit, mit der Familie in Kontakt zu treten, Billard zu spielen, Musik zu machen, sich untersuchen zu lassen oder auch dringende Hilfe in Anspruch zu nehmen
Ein paar Stunden von Bord kommen und eine Internetverbindung zu Familie und Freunden bekommen - rechts: Einsteigen in den Transporter
Von Hans Wille
Mobyclick heißt das W-LAN, das Passwort gibt es am Tresen. Kostenlos. Auch Kaffee, Wasser und Kekse sind gratis. Juri Grumant kennt das Prozedere schon. Seit 20 Jahren ist der russische Maschinist immer wieder zu Gast im Duckdalben. Eben erst von seinem Schiff abgeholt, verzieht sich der Oiler, so die internationale Berufsbezeichnung, mit Kaffeetasse und Smartphone in eine ruhige Sofaecke in dem weitläufigen Club und skyped mit seiner Frau in Murmansk. Ein knappes Dutzend weiterer Seeleute tut das Gleiche. Heute ist es leerer als gewöhnlich, und jeder findet ein ruhiges Plätzchen, ein wenig Privatspähre.
Ein Duckdalben ist eigentlich ein in den Hafenschlick gerammter Pfahl, an dem Schiffe festmachen können. Im Seemannsclub gleichen Namens, der mitten im Hamburger Hafen liegt, können die Seeleute aus aller Welt für ein paar Stunden als Mensch festmachen. Wenn sie in den Club kommen, waren sie zumeist wochen-, manchmal auch monatelang auf See und ohne Kontakt zur Familie. Egal, ob an Bord Captain oder Oiler, ob Chinese oder Philippino - im Duckdalben ist jeder ein Mensch, der zuallererst wissen will, ob es der Familie gut geht.
"Nach diesen Telefonaten erleben wir hier manch spontane Feier", sagt Anke Wibel, die Diakonin, "wegen einer Schwangerschaft, einer Geburt oder einer bestandenen Prüfung". Aber natürlich erfahren die Seeleute im Duckdalben auch von den Tragödien des Lebens, von Krankheit oder Tod, Naturkatastrophen oder Kriegsausbruch.
"In solchen Fällen hilft reden", sagt Anke Wibel. Die 53-jährige Diakonin arbeitet seit 21 Jahren im Duckdalben. Und weiß, wie hilfreich es sein kann, mit solch einer Hiobsbotschaft nicht alleine zu sein, sondern ein Gegenüber zu haben, bei dem man sich aussprechen, ausweinen oder auch mal alles rausschreien kann. Andere suchen die Stille, das Gebet. Dafür liegt oben im ersten Stock der große Gebetsraum. Jede Weltreligion hat dort ihren eigenen Gebetsbereich mit ihren Schriften, Bildern und Symbolen.
Die Seeleute werden abgeholt, da die Entfernungen im Hafen groß sind
Die meisten Besucher lassen hier im Club einfach mal die Seele baumeln, genießen ihn als ein Stück Zuhause in der Fremde: Billard spielen, Musik machen, Karten zocken. Und den festen Boden unter den Füßen. Weil die Seemänner und Seefrauen höchstens drei oder vier Stunden Zeit haben, holen die Mitarbeiter ihre Gäste bei Anruf vom Schiff ab und bringen sie zurück.
Bier, Schokolade und Drogerieartikel
Heute hat Nonie Dienst im Duckdalben und ist für alles verantwortlich. Der Philippino ist selbst zehn Jahre zur See gefahren, ehe er vor 22 Jahren beim Duckdalben angefangen hat. Seine Aufgabe ist es, die zwei Bufdis, Bundesfreiwilligendienstleistende, und vier Ehrenamtlichen, die mit ihm Dienst haben, einzuteilen. Wer verkauft in dem kleinen Kiosk Bier, Schokolade und Drogerieartikel? Wer fährt den nächsten Bus?
Einmal pro Woche findet auch eine medizinische Sprechstunde des Hafenärztlichen Dienstes statt. Sie wird insbesondere für anonyme HIV-Tests und bei gewissen Krankheitssymptomen genutzt, die man ungern mit den Kollegen bespricht. "So konnten wir schon drei Menschenleben retten", sagt Anke Wibel, "weil die Krankenschwestern veranlasst haben, dass jemand sofort ins Krankenhaus gebracht wird. Im nächsten Hafen wäre es vermutlich schon zu spät gewesen".
Hängt in der Heimat das Leben eines Angehörigen von einer Operation oder Medikamenten ab, dann können die Seeleute im Duckdalben schnell und unbürokratisch Geld überweisen. Letztendlich können sie nur hoffen, dass ihr Geld bei den Angehörigen angekommen ist, während sie monatelang auf See sind. "Die Seeleute haben seit über 100 Jahren Vertrauen in die Seemannsmission", sagt Anke Wibel. Und zeigt zum Beweis unter die Decke. Dort hängen Dutzende von ausgedienten Rettungsringen mit Danksagungen und Unterschriften von Seeleuten. Und an den Wänden bezeugen Masken, Trachten und Bilder von der engen Verbundenheit vieler Seeleute zu ihrem Club. 2011 wählten sie den Duckdalben zum besten Seemannsclub der Welt.
Seeleute aus allen Teilen der Welt machen es sich für ein paar Stunden gemütlich, haben Internet und Zeit für ein Bier
Inzwischen hat Juri Grumant Skype und das russische Fernsehprogramm im Computerraum beendet, er muss zurück zum Schiff. Bevor die Bundesfreiwilligendienstleistende Ragna ihn fährt, deutet er auf einen Rettungsring: "Auf dem Schiff bin ich auch schon gefahren."
Ragna ist eine der insgesamt fünf Bufdis und rund 80 Ehrenamtlichen, ohne die der tägliche Betrieb zusammenbrechen würde. Im Normallfall werden mehr als 100 Gäste täglich betreut. Allein der Shuttleservice legt für die Seeleute jährlich 230.000 Kilometer zurück. Umweltfreundlich mit gasbetriebenen Kleinbussen. Einen hat die ITF gespendet, die Internationale Transportarbeiter Föderation, die weltweit zuständige Gewerk- schaft für Seeleute, deren deutscher Partner ver.di ist. Die anderen Busse stammen zum Teil auch aus Spenden von den vielen anderen Hafenpartnern, zu denen die Seemannsmission traditionell gute Kontakte pflegt: Wasserschutzpolizei, Zoll, See Berufsgenossenschaft, Port Authority und Terminalbetreiber.
Die Bordbetreuerin
Aus diesen maritimen Kreisen stammen auch viele der Ehrenamtlichen, an denen es keinen Mangel gibt, was Diakonin Anke Wibel unumwunden als Luxus bezeichnet. "Von A wie Arzt bis Z wie Zollbeamter haben wir wirklich alle Berufe, die uns helfen können", sagt sie. Im Konferenzraum des Seemannsclubs tagen die Betriebsräte einiger Hafenfirmen, und der Verband Deutscher Reeder feiert hier gerne.
Die 29-jährige Diakonin Maike Puchert ist zuständig für die Bordbetreuung und selbst mit einem Seemann, einem Kapitän liiert: "Das hilft mir, die Position der Angehörigen zu verstehen, die monatelang ohne nahe Angehörige auskommen müssen." Es gibt Schiffe, die liegen so kurz im Hafen, dass den Seeleuten nicht genug Zeit bleibt, überhaupt zum Duckdalben zu kommen. "Dann komme ich eben zu den Seeleuten", sagt Maike Puchert.
Sie geht auch auf die Schiffe, die noch nie einen Kontakt zur Seemannsmission hatten, quasi als Antrittsbesuch. Überraschend oft erlebt sie dann, oder jemand aus ihrem Team der 15 ehrenamtlichen Bordbetreuerinnen und Bordbetreuer, dass der runde Aufkleber des Duckdalben mit der kostenfreien Telefonnummer schon in der Messe klebt. "Auch wenn wir noch nicht auf diesem Schiff waren, so waren schon Seeleute im Duckdalben, die jetzt hier mitfahren."
Heute ist Maike Puchert zum Bordbesuch auf der knallroten Rio Madeira, einem 286 Meter langen Schiff der Reederei Hamburg Süd, das 5.905 Standardcontainer laden kann. Das Schiff fährt im Liniendienst auf der Route Europa-Pakistan/Indien. Innerhalb von 56 Tagen bedient es regelmäßig nach einem festen Fahrplan die Häfen von Hamburg, London und Antwerpen, ehe es über Marokko, Sardinien und die Arabische Halbinsel nach Pakistan und Indien und wieder zurück nach Hamburg fährt.
In der Bordmesse trifft Maike Puchert die beiden Philippinos Aron Dublar, dritter Offizier, und John Patrick Sanchez, einen der Maschinisten. Patrick muss Wache schieben, kann heute also nicht in den Duckdalben kommen. Aron indes ist gerade zum Dienstantritt von Manila nach Hamburg geflogen gekommen, er muss jetzt nicht an Land. Gestern erst hat er sich von seiner Frau und der zweijährigen Tochter verabschiedet. "Der Abschied ist immer wieder hart", sagt er. "Ich werde meine Tochter erst in siebeneinhalb Monaten wiedersehen. Aber ich verdiene gut. Nur so können wir uns das Auto und das Haus leisten." Und später solle seine Tochter eine Privatschule besuchen können.
Billiard spielen geht auf dem Schiff nicht
Mal eine ruhige Kugel schieben
Wenn irgend möglich, besuchen Aron und Patrick aber den Seemannsclub. Auch wegen des Billardtisches. An Bord ergäbe das Spiel keinen Sinn, weil die Kugeln niemals ruhig liegen würden. Während der fast zweimonatigen Rundreise können die Männer nur zweimal an Land gehen: in Dubai und in Hamburg. Die anderen Häfen haben entweder keine Seemannsmission oder sind zu weit weg von der Stadt. Und im Krisenland Pakistan dürfen die Männer zu ihrem eigenen Schutz nicht an Land gehen.
Maike Puchert bringt bei jedem Bordbesuch aktuelle Tageszeitungen der Philippinen, aus Russland, der Ukraine und China mit. Aus diesen Ländern kommen die meisten Seeleute. Zudem Prepaid-Karten für Internet und Handynetze. Und einen Stapel der Flyer und Aufkleber vom Duckdalben. Auch hier in der Messe der Rio Madeira klebt der Aufkleber bereits neben rund zehn weiteren Anlaufstellen für Seeleute in aller Welt.
Während Maike Puchert mit den beiden Seemännern redet, kommt die ukrainische Köchin des Schiffes und lädt sie zum Essen ein. Später erscheint ein polnisches Besatzungsmitglied, um eine Prepaidkarte zu erstehen. Die Bordbetreuerin plaudert, wartet auf weitere Crewmitglieder und erspürt vor allem die Stimmung an Bord. Es komme durchaus vor, dass sie merke: Hier stimmt ‘was nicht. Ein schlechtes Betriebsklima kann wie verbrauchte Luft das Raumklima beeinträchtigen - selbst wenn nur ein Crewmitglied in der Messe sitzt. "Die Wände im Schiff haben Ohren. Wenn jemand an Bord ein Gespräch mit mir sucht, dann ist die Not schon sehr groß." Wenn sie merkt, dass jemand nicht reden will, aber auch nicht seines Weges geht, dann bietet sie ihm an, mit an Land zu kommen. Im Duckdalben ist die Anonymität gewahrt.
Ein geschützter Raum
"Vor Jahren hat mir ein Maschinist auf einem griechischen Schiff heimlich einen Zettel zugesteckt. Darauf stand in Englisch ,Nur noch ein Sack Reis an Bord. Keine Arbeitskleidung zum Wechseln'. Einige Seeleute nahmen mein Angebot an, wir fuhren in den Club und haben uns in einem Büro eingeschlossen", sagt Puchert. Dort hätten die Seeleute dann von der menschenunwürdigen Behandlung durch die Reederei erzählt. "Die Männer stanken in ihren ölverschmierten Overalls", sagt sie. "Wir haben ihnen erst mal aus unserem Fundus Wechselkleidung gegeben und dann die ITF informiert, die sich sofort bei der Reederei über die Zustände beschwert hat."
Wie die Geschichte ausgegangen ist, weiß Maike Puchert - wie so oft - nicht, denn nachdem das Schiff den Hamburger Hafen verlassen hatte, hat sie nichts mehr von den Seeleuten gehört. "Ich hoffe, dass sie den Mut, sich an mich und an die ITF zu wenden, nicht bereuen mussten. Deshalb würde ich das niemals ohne Zustimmung der Betroffenen tun." Auf See, wenn es kein Entrinnen gibt, können Mobbing, Ausbeutung und Unterdrückung noch viel grausamer sein als an Land.
Diakonin Maike Puchert besucht im Krankenhaus "Groß Sand" einen Seemann, der vor einigen Tagen wegen einer Infektion eingeliefert wurde
Nach gut einer Stunde verlässt Maike Puchert die Rio Madeira. Es war einer der unspektakulären Bordbesuche. Zwei Handykarten verkauft, einige Gratiszeitungen verteilt und vier Gespräche geführt. Mehr nicht. Zum Glück. "Reedereien wie die Hamburg Süd setzen sich für ihre Seeleute ein", sagt Maike Puchert. "Das sieht man schon daran, dass sie zu den neun Paten gehören, die zusammen 95.000 Euro jährlich für die Semmannsmission spenden. Aber es gibt eben auch die Reedereien, die sich einen Dreck um ihre Leute scheren."
Um die Seeleute kümmert sich Maike Puchert auch, wenn sie ins Krankenhaus müssen. "Wer im Krankenhaus liegt, der hat eigentlich gar nichts mehr: Das Schiff ist weg, die Kollegen, manchmal sogar das eigene Gepäck. Er kann nicht in seiner Muttersprache reden, das Essen schmeckt komisch, und das alles in einer Situation, in der er krank ist, es dem Menschen also sowieso schon schlecht geht." Um diese psychosoziale Misere so erträglich wie möglich zu gestalten, besucht Maike Puchert "ihre" Patienten so oft wie möglich, mindestens jeden zweiten Tag.
Kurz macht sie Halt im Duckdalben, der sich deutlich gefüllt hat. An beiden Billardtischen wird gespielt, drei Seemänner legen an den Instrumenten eine Session ein, während andere mit einem Bier an den mit Blumen geschmückten Tischen sitzen und auf ihre Smartphones blicken. Maike Puchert sagt nur schnell hier und da "hallo" und schon führt sie ihr nächster Weg ins hafennahe Krankenhaus "Groß Sand". "Hallo Vianni, wie geht es dir?", begrüßt sie den 30-jährigen Vianni Amador, der wegen einer auffälligen Magen-Darm-Geschichte ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Seit sieben Tagen liegt der Philippino im Krankenhaus Groß Sand, das eine spezielle Seemannsambulanz hat. Wer dort als Arzt oder Arzthelferin arbeitet, spricht fließend Englisch, kennt einigermaßen die Lebens- und Arbeitswelt der Seeleute und verfügt über kurze Kommunikationswege in die Reedereien oder deren Agenten vor Ort.
Seit 21 Jahren Leiterin des Duckdalben: Diakonin Anke Wibel
Die zahlen den Aufenthalt im deutschen Krankenhaus, was aber noch lange nicht heißt, dass sie ihre Mitarbeiter gelegentlich besuchen. "Mein deutscher Zimmernachbar bekommt regelmäßig Besuch", sagt Vianni. "Ich bin ja schon froh, wenn die mich freundlich grüßen. Mein einziger Besuch bist du", sagt er zu Maike Puchert. Er ist begeistert von dem Obstteller, den sie ihm mitgebracht hat. Und ja, er habe noch genügend Flatrate im eigenen Notebook für den täglichen Kontakt mit dem kleinen Sohn und der schwangeren Frau. Vermutlich morgen oder übermorgen wird Vianni entlassen.
Ein herrenloser Nagelklipser
Darauf wartet Shirke Ravindra D. seit fast sechs Wochen. Der Inder geht unruhig in seinem Krankenzimmer auf und ab, als Maike zu ihm kommt. Ein Bandscheibenvorfall hat dem 61-jährigen Schiffsmechaniker die Zwangspause beschert. Erst die zweite OP scheint erfolgreich verlaufen zu sein. Er vermisst seine Frau und die beiden Kinder. Wann er wohl das Krankenhaus verlassen könne? Keine Ahnung, sagt er etwas entmutigt. Zu allem Unglück hatte er auch noch einem Kollegen für einige Wochen sein Notebook geliehen. Jetzt hat er nur ein uraltes Handy ohne die Möglichkeit zu skypen. Aber er schimpft nicht, bleibt bei allem, was er sagt, höflich und bescheiden. Auch ihm hat Maike Puchert Obst und Zeitung mitgebracht. Und einen Fingernagelknipser. Sein eigener fährt seit dem 11. Januar herrenlos über die Weltmeere.
Dieses Problem konnte Maike Puchert lösen. Das Krankenhausessen ist für den gläubigen Hindu ein weiteres Problem: "Oftmals erkenne ich nicht, ob Rindfleisch in dem Essen ist. Dann esse ich es lieber nicht." Für solche Tage hat Maike Puchert ihm einen Vorrat an Gläsern mit indischem Essen besorgt. Nur sein eigentliches Problem, die Sehnsucht nach der Familie und der Sprache - die kann sie nicht stillen.