Anthony Doerr: Memory Wall

Alma Konachek ist 74 Jahre alt. Die wohlhabende Witwe lebt in einem Vorort von Kapstadt. In einem schleichenden, unheimlichen Prozess verliert sie ihr Gedächtnis und somit das Gefühl für ihr bisheriges Leben. Doch es besteht Hoffnung auf Heilung: Ärzte können bestimmte persönliche Momente direkt aus dem Gehirn herunterladen und ihren Patienten auf Audio-Kassetten zur Verfügung stellen.

"Alte Menschen in Pflegeheimen, so wird berichtet, benutzen Erinnerungsgeräte wie Drogen und schieben die immer gleichen Kassetten in sie hinein, die Hochzeitsnacht, einen Frühlingsnachmittag, eine Fahrradtour ums Kap", schreibt Anthony Doerr. Der US-Schriftsteller hat aus diesem futuristischen Szenario keinen Science-Fiction-Roman gezimmert, sondern eine stille, feinsinnige Novelle, die sich wie eine ungewöhnliche Demenz-Chronik liest. In klaren Worten beschreibt Doerr eine alte Frau, die trauert - um ihren verstorbenen Mann Harold und um ihre Erinnerungen. Doerr zeigt, wie Alma nach Halt sucht, wie sie sich von ihrem Hausdiener Pheko helfen lässt, wie sie vor ihrer Memory Wall steht, einer Wand voller Fotos, Postkarten, Einkaufslisten und Kassetten, die ihr als Gedächtnisstützen dienen sollen.

Almas verstorbener Mann war Forscher, und so wie er früher nach Fossilien suchte, sucht die Witwe nun nach Erinnerungen an ihn. Und nicht nur sie: Unbekannte brechen mehrmals in Almas Haus ein. Darunter Roger und Luvo, die sich von der Memory Wall Erkenntnisse über den Fundort eines wertvollen versteinerten Dokuments erhoffen. Anthony Doerr macht mit seiner Geschichte nicht nur deutlich, wie unser Leben durch Erinnerungen zusammengehalten wird. Sondern auch, was passieren kann, wenn diese Momente wiederbelebt werden können und daraus ein Geschäft wird. In Doerrs Kapstadt gibt es Erinnerungshändler, arme Schwarze, die Kassetten mit den Erlebnissen der reichen Weißen verkaufen. Auf einer dieser Kassetten sagt Harold: "Nichts bleibt. Dass etwas versteinert, ist ein Wunder. Die Chancen stehen eins zu fünfzig Millionen. Der Rest von uns? Wir verschwinden im Gras, in Käfern, in Würmern. In Lichtstreifen."

Anthony Doerrs kurze Erzählung wurde im vergangenen Jahr mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Zu Recht, denn so poetisch und spannend wurde bisher kaum über Demenz und das Verschwinden von Erinnerungen geschrieben. Günter Keil

C. H. Beck Verlag, Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence, 135 S., 14,95 €


Liza Marklund: Verletzlich

Ihre Krimis um die hartnäckige Journalistin Annika Bengtzon, einer Figur mit Ecken und Kanten, sind internationale Bestseller. Auch der letzte Band der Reihe ist ein typischer Marklund: Ihre unverkennbare Mischung aus Spannung, Fiktion und Realität. Dazu kommt ihr genuin weiblicher Blick und die Fähigkeit, persönliche Fragen zu politischen zu machen und umgekehrt. Dabei vergisst die schwedische Autorin selbstverständlich ihr Hauptanliegen nicht, das sie seit ihrem ersten Bengtzon-Krimi bewegt: Gewalt gegen Frauen. Und so stellt ihre Boulevard-Reporterin wieder unbequeme Fragen. Stur greift sie einen alten Fall um einen Serienmörder erneut auf. Darüber hinaus spiegelt der Alltag in der Redaktion der fiktiven Zeitung den Zeitgeist wieder: Crossmediale Online-Arbeit ist angesagt. Die Printausgabe des Stockholmer Abendblattes soll eingestellt werden, die Hälfte der Belegschaft muss gehen. Gleichzeitig muss Bengtzon sich den Dämonen ihrer Vergangenheit stellen. Dabei bringt die Suche nach ihrer verschwundenen Schwester sie in tödliche Gefahr. In jeder Hinsicht ein würdiger Abschied für die starke Serienheldin der skandinavischen Krimiszene. Luitgard Koch

Ullstein, 352 S., Ü: Dagmar Lendt, 14,99 €


Olaf R. Dahlmann: Das Recht des Geldes

Das hätte auch schiefgehen können: Olaf R. Dahlmann ist Rechtsanwalt, spezialisiert auf Steuerstrafrecht - und schreibt seinen ersten Krimi über Steuerkriminalität "zum Teil nach wahren Begebenheiten". Aber der Hamburger ist allen Langweiligkeits- und Belehrungsfallen geschickt aus dem Weg gegangen, indem er in einem lakonischen Stil und mit trockenem Witz seinen zwar komplizierten, aber auch für Laien, sprich: den braven Steuerzahler, am Ende durchschaubaren Fall erzählt. Der Ankauf gestohlener Bankdaten ist für den Staat seit Jahren ein äußerst lukratives Geschäft. Er kann es aber auch für Kriminelle werden, die im Wissen um den brisanten Inhalt der CDs die Finanzbetrüger erpressen. Wenn die Steuerhinterzieher dann noch vornehmste Hamburger Kaufleute mit wohltätigem Image und glänzendem Ruf in Protzvillen sind, führt das zu verwickelten Ermittlungen auf polizeilicher und finanzbehördlicher Ebene, auf denen man sich nicht immer freundlich begegnet und einige Steuerfahnder durch Brutalität und Skrupellosigkeit verblüffen. Katharina Tenzer, sympathische Rechtsreferendarin mit Ehrgeiz, gerät in ihrer Kanzlei zwischen sämtliche lebensgefährliche Fronten und treibt die Spannung mit einigen hochriskanten Aktionen voran, während sich um sie herum die Leichen häufen. Der Autor wechselt mühelos zwischen den Schauplätzen Liechtenstein, Hamburg, Berlin, Zürich oder Hannover, die Leserin folgt ihm willig und neugierig bis zum rasanten Showdown - und könnte sich an die taffe Frau Tenzer gewöhnen. Ulla Lessmann

Grafit Verlag, 374 S., 12,00 €


Faiz/Julia Tieke: Mein Akku ist gleich leer

Dieses atemlos gelesene Bändchen protokolliert einen Chatverlauf während der gefährlichen Flucht des Literaturstudenten Faiz aus Syrien bis zu seiner Ankunft in Deutschland. Der IS will den Medienaktivisten enthaupten, die Regierungstruppen sind hinter ihm her, seit er sich 2011 den Protesten in Syrien angeschlossen hat. Er geht zunächst ins Exil in die Türkei, und steckt in der Sackgasse. Hier begegnet er Julia Tieke. Die Journalistin des Deutschlandradios ist für eine Recherche über unabhängiges Radio in Syrien unterwegs. Eine im wahrsten Sinne flüchtige Begegnung. Im Oktober 2014 hört sie in Berlin von seiner Flucht und fragt ihn über Facebook, wie es ihm geht. Da ist er gerade in Mazedonien und schläft im "Dschungel". Im Folgenden erleben wir mit der behutsam nachhakenden Julia Tieke grobe Einzelheiten der Flucht. Faiz wird immer wieder erwischt, landet in Gefängnissen, wird geschlagen. Er meldet sich aus Polizeistationen, Schlepperautos und in tiefster Mutlosigkeit, aus der ihn Julia aus der Ferne versucht, mit Worten herauszuholen. Auch ihr innerer Konflikt ist deutlich zu spüren. Wie alle Hilfsbereiten fühlt sie sich ohnmächtig. Sie kann aus der Ferne nur das spenden, was sich für sie als stets zu wenig, für Faiz jedoch als überlebenswichtig erweist: ihre Anteilnahme. Jenny Mansch

Mikrotext Verlag 2015, 60 S. 7,99 € , E-Book, 50 S. 1,99 €