Das Gebiss in der Brusttasche

Es gehört schon einiges dazu, mit einem deutschen Wettbewerbsbeitrag in Cannes zu reüssieren, noch dazu als Frau. Schließlich war das deutsche Kino in der wichtigsten Sektion des berühmtesten Filmfestivals viele Jahre nicht vertreten, und in einigen Jahrgängen präsentierten sich unter den Regisseuren ausschließlich Männer. Maren Ade, an der Croisette mit schier überwältigenden Ovationen gefeiert, hat darüber hinaus noch ein weiteres Kunststück vollbracht: eine anspruchsvolle Komödie!

Sie ist von jenem beschämenden Gefühl durchdrungen, das Eltern in einem auslösten, als auf dem Schulfest niemand ihre Witze lustig fand. Ein clownesker Lebenskünstler folgt seiner Tochter bis nach Bukarest, um sich mit falschen Zähnen, die er stets in der Brusttasche trägt, zusehends dreister in ihren beruflichen Alltag einzumischen. Anfangs zeigt die Unternehmensberaterin noch guten Willen und gestattet ihrem Vater, sie zu Empfängen zu begleiten. Aber so, wie er immerfort peinliche Szenen kreiert, geht das nicht lange gut. Freundlich wirft sie den Störenfried raus. Aber Winfried geht nicht. Er sorgt sich um Ines und will ihr helfen, ihren Humor wiederzufinden. Ausgestattet mit Gummigebiss, Wuschelperücke, Furzkissen und Handschellen gibt er sich als Coach aus und zwingt seine Tochter zum Mitspielen. Tatsächlich schafft er als Toni Erdmann, was Winfried nicht geschafft hat: Er findet einen Weg zu ihr.

Der exaltierte Alte wirkt zwar etwas überdreht, vor allem, wenn er im großen Finale im Ganzkörper-Fellkostüm eine skurrile Nacktparty beehrt. Zugleich entlarvt er mit seinem Schabernack die Maskeraden aller Umstehenden. Maren Ade zeigt aber auch die ernsten Seiten der Business-Welt, den alltäglichen Sexismus, rigide Sparprogramme als Folge der Wirtschaftskrise, die Ausbeutung osteuropäischer Länder sowie an den Rändern die grenzenlose Armut in der rumänischen Metropole, trostlose Hinterhöfe, abrissreife Bruchbuden, ausgebeutete kleine Angestellte und streunende Hunde.

Auch wenn die große Favoritin Ade am Ende statt der Goldenen Palme nur den Fipresci-Kritikerpreis gewann: Eine vergleichbare euphorische Beachtung hat sich in Cannes seit Rainer Werner Fassbinder kein anderer deutscher Beitrag verdient. Toni Erdmann ist ein cineastisches Juwel, spannend, klug und witzig. Kirsten Liese

D 2016. R: Maren Ade. Darsteller: Sandra Hüller, Peter Simonischek, Thomas Loibl, Michael Wittenborn u.a.; 162 Min., Start: 14. Juli 2016


Atomic Falafel

Mimi und ihre 15-jährige Tochter Nofar fahren in ihrem knallroten Falafel-Truck durch die israelische Wüste, um die dort stationierte Armee mit ihren scharfen Sandwiches durchzufüttern. Just als diese einem vermuteten Atomangriff aus dem Iran mit einem Präventiv-Schlag auf die verhassten Nachbarn zuvorkommen will, meldet sich eine europäische Atomkommission an, und es kommt wie es kommen muss: Mimi verliebt sich in den deutschen Atominspektor, und gemeinsam mit ihrer latent aggressiven Tochter, die auch noch einen Hacker und eine talentierte iranische Rapperin zu ihren Freunden zählt, bringen sie die ganze Mission gehörig ins Wanken. Sein eigentliches Ziel, eine israelisch-iranische Koproduktion, hat der israelische Regisseur Dror Shaul zwar nicht erreicht. Doch er zeigt eine Jugend, die insbesondere durch die sozialen Medien über Grenzen, Hass und Vorurteile hinweg zueinander findet und von einer friedlichen und freien Zukunft träumt, während er gleichzeitig radikal eine paranoide Kriegspolitik kritisiert, in der Menschenleben zu simplen Zahlen werden. Eine herrlich groteske Komödie über die Spannungen zwischen Israel und dem Iran und den Menschen dazwischen. Seine Atomic Falafel bald auch in iranischen Kinos servieren zu können, ist Shauls nächstes Ziel. Feline Mansch

D/Is/NZ 2015. R:Dror Shaul; D.:Michelle Treves, Shai Avivi, Mali Levi, Alexander Fehling; 90 Min., Kinostart 14. 7. 2016


Seefeuer

Lampedusa besteht aus 20 Quadratkilometern und 4.500 Bewohnern, liegt als italienische Insel 70 Kilometer vor Tunesien, hat bisher 400.000 afrikanische Bootsflüchtlinge aufgefangen, während 15.000 Menschen vor der Küste verdurstet oder ertrunken sind. Seefeuer, so der Verleihtitel des Berlinale-Gewinners Fuocoammare, zeigt diese Katastrophe aus Sicht der Leute von Lampedusa. Der Fischernachwuchs Samuele, ein 12-Jähriger, übt auf dem schwankenden Ponton am Bootshafen dafür, seine Seekrankheit zu besiegen. Der Arzt, der Samuele eine Spezialbrille verpasst und sich über Ultraschall für schwangere Flüchtlingsfrauen freut, weil er die Obduktion toter Bootsbabys nicht mehr ertragen kann. Die Männer der Küstenwache, die in ihren weißen Seuchenschutzanzügen den Seenotrufen der Flüchtlingsboote hinterherfahren. Und retten, wen sie retten können, in einer Mischung aus effizienten Abläufen und archaischen Gesten der Mitmenschlichkeit. Dieser Dokumentarfilm ist außerdem ein Kunstwerk aus Bildkompositionen, Farben, Landschaften. Großartig und bitter.Jutta Vahrson

I/F 2016. R: Gianfranco Rosi. D: Samuele Pucillo, Pietro Bartolo, Giuseppe Fragapane, Maria Signorello, 108 Min., Kinostart 28. 7. 16


Wiener Dog

Der Dackel. Auf kurzen krummen Beinen spaziert er durchs Leben und nimmt mit immer neuen Menschen freundlichen Kontakt auf, nicht zuletzt wegen des Futters. Für einen Amerikaner ähnelt das Tier einem Wiener Würstchen, daher der Spitzname Wiener Dog. Indie-Regisseur Todd Solondz widmet seinen Episodenfilm einem Dackel und dessen Frauchen und Herrchen. Während das Tierchen schläft oder Designerkissen zerfetzt vor Glück, werden seine Betreuer von Liebesmangel gebeutelt, von arroganter Unehrlichkeit, dem Scheitern oder Neid auf Ruhm, Glanz, Gloria. Schwarzer Humor ist das Mittel des Regisseurs, diese Themen zu vermitteln. Stars des amerikanischen Independent Kino wie Greta Gerwig, hier Tierarzthelferin, überzeugen in diesem außergewöhnlichen Streifen so sehr wie Danny de Vito, dem Altmeister der Tragikomik. Der Dackel bekommt seine eigene Country-Ballade sowie eine Animationssequenz, in der er jeder Wüste und jedem Schneesturm trotzt. Aber eines Tages wird er über eine befahrene Straße dackeln und danach seine Version der Unsterblichkeit finden. Jutta Vahrson

USA 2016. R: Todd Solondz. D: Julie Delpy, Greta Gerwig, Danny de Vito, Kieran Culkin, 90 Min., Kinostart 28. 7. 2016