Ausgabe 08/2016
„Wir brauchen einen Kurswechsel“
Auf die Frage: "Wie schätzen Sie die gesetzliche Rente ein, die Sie später einmal aus ihrer Erwerbstätigkeit erhalten werden?" antworten aktuell 42 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit: "Es wird nicht ausreichen." Und weitere 40 Prozent sagen: "Es wird gerade so ausreichen." Diese Diagnose ist zutreffend. Und regierungsamtlich. Bereits im 5. Altenbericht der Bundesregierung hieß es 2005: "Wären die 2001-2004 beschlossenen Maßnahmen, die stufenweise ihre Wirkung entfalten sollten, bereits heute voll wirksam, so würde zum Beispiel eine Rente der gesetzlichen Rentenversicherung von 1.000 Euro bei optimistischer Rechnung nur noch 750 Euro betragen - also ein Viertel weniger."
Zum Vergleich: Die Rentenhöhe lag 2014 bei den männlichen Rentenzugängen im Westen bei 980 Euro (Frauen 562 Euro) und bei denen im Osten bei 952 Euro (Frauen 814 Euro). Das vermittelt eine Vorstellung von der Dimension dessen, was da auf uns zukommt. Wäre das gesetzliche Rentenniveau heute schon auf das Niveau abgesunken, das nach derzeitiger Gesetzeslage bis 2030 hingenommen wird - hätten wir also schon heute ein Rentenniveau von 43 Prozent -, dann würde jemand, der lediglich 80 Prozent des Durchschnittseinkommens - immerhin 2.400 Euro - über sein Arbeitsleben hinweg hatte, am Ende 38,2 Beitragsjahre benötigen, nur um das heutige Grundsicherungsniveau von 774 Euro zu erreichen!
Jemand, der mit 2.500 Euro etwas über den 80 Prozent vom Durchschnittseinkommen liegt, könnte danach mit einer Nettorente vor Steuern - also nach Abzug von rund 11 Prozent Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsbeitrag - von 809,09 Euro im Monat rechnen. Nur kommen derzeit rund 50 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bundesweit gar nicht auf 80 Prozent des Durchschnittseinkommens von zurzeit 2.400 Euro. Ein Einkommen von 2.400 Euro und weniger: Das trifft Millionen. Was da auf uns zukommt, ist massenhafte Altersarmut, wenn nicht gegengesteuert wird. [...]
Kurzfristig droht aktuellen Schätzungen zufolge jedem dritten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten Altersarmut und somit der Bezug von Grundsicherung, also im Durchschnitt 774 Euro im Monat. Grundsicherung für ein Drittel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, das ist in der Tat eine fundamentale Herausforderung: für die Politik und für die Gewerkschaftsbewegung. Was droht, ist die Delegitimierung der gesetzlichen Rentenversicherung. Das können und wollen wir nicht hinnehmen. Was da tickt, ist keine demografische, sondern eine soziale Zeitbombe. Und die muss entschärft werden.
Dazu war die Riesterrente gedacht - als private Vorsorge, vom Staat steuerlich gefördert. [...] Heute wissen wir: Im Zeichen niedriger Zinsen, intransparenter Riester-Produkte und hoher Provisionsgebühren lohnt sich das Riestern nicht. Mal ganz davon abgesehen, dass diejenigen, die es am dringendsten bräuchten, es sich am wenigsten leisten können. [...].
Vor diesem Hintergrund ist nun hoch interessant, was wir in Sachen Rente in den letzten Monaten an öffentlicher Debatte erlebt haben: Da erklärte CSU-Chef Horst Seehofer: "Die Riesterrente ist gescheitert!" Stimmt! Und Sigmar Gabriel erklärt: "Das Rentenniveau muss stabilisiert werden, sonst droht Altersarmut." Stimmt auch! Deshalb, so Gabriel weiter, brauche es eine große Rentenreform. Und wenn die CDU da nicht mitmache, werde das zum Wahlkampfthema. "Wahlkampfthema?" kontert der Vorsitzende der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion: Das Thema Rente dürfe nicht zum Wahlkampfthema werden.
Das alles sind Anzeichen zunehmender Nervosität bei einem Thema, das Millionen von Menschen in unserem Land elementar betrifft - in einer Situation, in der die seit einigen Jahren verfolgte Rentenpolitik erkennbar auf ein Desaster zusteuert. Dabei liegt das Rentenniveau in Deutschland heute schon deutliche 15 Prozent unter dem Durchschnitt der 34 Staaten der "Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung" (OECD). [...]
Und noch einmal ausgeprägter ist der Abstand, wenn man nur die große Gruppe der Geringverdienenden betrachtet. Da liegt der Durchschnitt der OECD-Staaten bei einer Lohnersatzquote von 75 Prozent. Deutschland jedoch nur bei 47 Prozent. [...]
"Abschlagsfreie Rente für alle erst mit 70? Haben die sie eigentlich noch alle? Da sind Leute unterwegs, die offenbar jeden Kontakt zur Lebenswirklichkeit von Millionen von Menschen verloren haben"
Und da meldet sich Jens Spahn, Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und Hoffnungsträger des Wirtschaftsflügels der CDU, und erklärt: Das Rentenniveau müsse noch weiter abgesenkt werden, als bisher geplant. Da lässt die Bundesbank verlauten, dass das gesetzliche Rentenalter auf 69 Jahre angehoben werden müsse. Und Frau Petry von der AfD toppt das noch, indem sie die "Rente erst mit 70" befürwortet und obendrein prüfen will, ob nicht zusätzlich auch noch das Rentenniveau weiter abgesenkt werden müsse. Da sind die Jungs von der Jungen Union mit ihrer Forderung nach Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 70 noch nicht mal die Radikalsten.
Nur: Abschlagsfreie Rente für alle erst mit 70? Haben die sie eigentlich noch alle? Da sind Leute unterwegs, die offenbar jeden Kontakt zur Lebenswirklichkeit von Millionen von Menschen verloren haben. Die sollten wir mal einladen, eine Woche schaffen zu gehen: in Pflegeheimen, in der Notaufnahme von Krankenhäusern, auf dem Bau, oder sie einladen, bei der Müllabfuhr eine Woche lang Mülltonnen zu laden - viele Kilometer am Tag - bei jedem Wetter. Und dann fragen wir sie mal, ob sie sich vorstellen können, das nicht nur eine Woche zu machen, sondern ein Jahr und nach dem Jahr noch zehn Jahre und nach zehn Jahren noch 30, 35, 40 Jahre und ob sie dann immer noch für die abschlagsfreie Rente erst ab 67 oder gar 70 sind - das fragen wir sie dann mal. Und da bin ich gespannt auf die Antworten.
[...] Was die betriebliche Altersversorgung betrifft, haben 40 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land überhaupt keine - und da sind wir noch gar nicht bei der Höhe vieler Betriebsrenten.
Entscheidend ist und bleibt daher die gesetzliche Rente - und deren Niveau soll in den nächsten Jahren weiter absinken. Das ist nicht zu akzeptieren. Wir brauchen einen Kurswechsel in der Rentenpolitik!
Die Talfahrt des Rentenniveaus muss gestoppt werden. Das gesetzliche Rentenniveau muss stabilisiert und dann wieder angehoben werden. Nach jahrzehntelanger Arbeit muss die Rente reichen, um ein anständiges Leben führen und in Würde altern zu können.
Zeiten im Niedriglohnbezug, Zeiten der Arbeitslosigkeit, Zeiten prekärer Selbständigkeit müssen aufgewertet werden: Rente nach Mindesteinkommen - so wie das für Zeiten bis 1991 schon der Fall ist. Das würde insbesondere vielen Frauen, Arbeitslosen und Menschen mit geringen Löhnen helfen. Für Langzeitarbeitslose muss die Bundesagentur für Arbeit wieder Beiträge an die Rentenversicherung abführen. Erwerbsminderungs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten müssen dringend aufgestockt werden. Und um eine langfristige Finanzierung zu sichern, brauchen wir eine Erwerbstätigenversicherung für alle neu ins Erwerbsleben Eintretenden.
Das sind die gewerkschaftlichen Forderungen. Sie sind Gegenstand einer gemeinsamen großen Kampagne aller DGB-Gewerkschaften, die wir fortführen bis zur Bundestagswahl und darüber hinaus.
Klar ist, die Anhebung des gesetzlichen Rentenniveaus alleine wird das Problem der Altersarmut nicht lösen. Deshalb sind gute Lohnabschlüsse so wichtig und der Kampf gegen die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen in Gestalt etwa von Scheinwerkverträgen, Minijobs und sachgrundlos befristeten Arbeitsverhältnissen. Deshalb müssen in die gesetzliche Rentenversicherung Instrumente der Armutsbekämpfung integriert werden. [...] Wir fordern, die Rente nach Mindestentgeltpunkten zu verlängern. Dieses Instrument, das es bereits gibt, [...] könnte die Rentenversicherung schnell und problemlos umsetzen. Die Rente nach Mindestentgeltpunkten [...] würde zum größten Teil Frauen zugute kommen. 20 bis 25 Prozent der Frauenrenten würden davon profitieren. [...]
Wir wollen und wir müssen dafür sorgen, dass die Bundesregierung und die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten umdenkt und die Weichen für eine Rentenpolitik stellt, die die Bekämpfung der Altersarmut ernst nimmt und wieder die Sicherung des Lebensstandards im Alter durch Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung in den Blick nimmt.
"Die jungen Beschäftigten, die heute einzahlen, sind doch die Alten von morgen, die dann von der heute gekürzten Rente leben müssen"
[...] Viele zahlen lieber drei, vier Prozent höhere Beiträge, als dass sie im Alter dauerhaft von Hartz IV beziehungsweise Altersgrundsicherung abhängig sind. Das Rentenniveau vor Steuern, das dem im Erwerbsleben erreichten Lebensstandard in etwa entspricht, liegt bei etwa 53 Prozent. Die Anhebung des Beitragssatzes um einen Beitragssatzpunkt würde für einen Erwerbstätigen, der monatlich 2.500 Euro verdient, zusätzlich 12,50 Euro Monatsbeitrag bedeuten: Mit rund 16 Euro könnte dieser Versicherte - paritätische Finanzierung vorausgesetzt - wieder auf ein Rentenniveau von rund 50 Prozent vor Steuern kommen und mit weiteren 19 Euro auf 53 Prozent.
So, wie ein höheres Rentenniveau maßgeblich über höhere Beiträge zu finanzieren ist, müssen gesamtgesellschaftliche Aufgaben, wie Kindererziehung oder Armutsbekämpfung auch von der gesamten Gesellschaft, also aus Steuermitteln getragen werden. Wenn zum Beispiel die Zahlungen der Mütterrente - das heißt die rentenrechtliche Anerkennung von Zeiten der Kindererziehung, mit Kosten von immerhin rund 6,5 Milliarden Euro jährlich - der Rentenversicherung vollständig vom Bund erstattet würden, könnte die Beitragssatzanhebung, die für eine Rentenniveausteigerung notwendig wird, entsprechend geringer ausfallen.
Mithin werden zur Umsetzung unserer rentenpolitischen Forderungen auch höhere steuerliche Zuschüsse notwendig sein: Es muss Schluss damit gemacht werden, dass Deutschland eine Steueroase ist bei der Besteuerung großer Vermögen und großer Erbschaften und ein Niedrigsteuerland bei der Besteuerung von Kapitalerträgen. Es ist doch ein Unding, dass Kapitalerträge in Deutschland mit 25 Prozent besteuert werden und Arbeitseinkommen mit bis zu 43 Prozent. Nicht nur, weil die Vermögensverteilung immer ungleicher geworden ist, sondern auch, weil es die Profiteure steuerpolitischer Reichtumspflege in der Ära Schröder und Merkel gewesen sind, die in der Finanzmarktkrise mit hunderten von Milliarden Euro zusätzlicher Staatsverschuldung vor Vermögensschäden bewahrt wurden - durch uns, die Steuerzahler.
Im Zeichen öffentlicher Investitionsbedarfe, kommunaler Finanzprobleme und rentenpolitischer Handlungsbedarfe können und dürfen wir es uns nicht länger leisten, Besitzer großer Vermögen und reiche Erben steuerlich zu privilegieren. [...] Das ist unsere Position. Dafür treten wir ein: für faires Teilen und für mehr Steuergerechtigkeit. [...]
Wir können sicher sein: Dagegen werden Arbeitgeberverbände und ihre Lobbyisten aus allen Rohren schießen. In ihrem Interesse und zum Nutzen der Versicherungskonzerne ist seinerzeit 2001 der Paradigmenwechsel vollzogen worden - weg vom Ziel einer annähernd lebensstandardsichernden Rente hin zum Vorrang der Beitragssatzstabilität. [...] Stabil sollten die Beiträge bleiben, nicht die Renten. Wir wollen im Gegensatz dazu gute und sichere Renten.
Und wir können sicher sein: Die Forderung nach einem erneuten Paradigmenwechsel - hin zum Vorrang der Lebensstandardsicherung, unter bewusster Inkaufnahme höherer Beitragssätze und höherer steuerfinanzierter Leistungen - wird die Arbeitgeberverbände und ihre Adepten auf die Zinne treiben. Ein Anstieg der Lohnkosten um 6 oder 7 Prozent zur paritätischen Finanzierung besserer Renten, erteilt auf die nächsten 10 bis 14 Jahre - das geht in ihren Augen natürlich gar nicht. Sie werden dagegen schießen und einen Generationenkonflikt beschwören: Alt gegen Jung und Jung gegen Alt. Nur wenn die Rentnerinnen und Rentner den Gürtel enger schnallten, so die Parole, bliebe die Rente zukünftig bezahlbar. Die Älteren dürften die Jungen nicht ausplündern! Das haben sie schon mal gesagt und werden sie wieder sagen. [...]
In der Rentenpolitik gibt es mithin keinen Generationenkonflikt. Jung kämpft nicht gegen Alt. Die jungen Beschäftigten, die heute einzahlen, sind doch die Alten von morgen, die dann von der heute gekürzten Rente leben müssen. Für die einen wie für die anderen, für die Rentnerinnen und Rentner von morgen wie für die heutigen gilt deshalb gleichermaßen: Menschen, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben, möglicherweise unterbrochen von Zeiten der Arbeitslosigkeit, Zeiten prekärer Selbständigkeit, müssen eine Rente erhalten, die sie vor Armut schützt! Das ist eine Grundforderung sozialer Gerechtigkeit. [...]
"Abschlagsfreie Rente für alle erst mit 70? Haben die sie eigentlich noch alle? Da sind Leute unterwegs, die offenbar jeden Kontakt zur Lebenswirklichkeit von Millionen von Menschen verloren haben"
"Die jungen Beschäftigten, die heute einzahlen, sind doch die Alten von morgen, die dann von der heute gekürzten Rente leben müssen"