Julian der Möchtegern-Filmemacher, Hartz-IV-Empfänger, ist verliebt in Camille und vor allem ein ziemliches Weichei. Weil ihn die Sozialbehörde zum Arbeitseinsatz verdonnert, landet er auf einer Brandenburger Apfelplantage, wo seine und Camilles marxistische Ideale auf dem Prüfstand der Realität landen. Dort lesen sich osteuropäische Erntehelfer gegen-seitig "Anna Karenina" vor und legen als Lesezeichen einen Arbeitshandschuh in den Tolstoi, bevor sie in nächtlichen Überstunden die von der "lustigen Ernte-Olympiade" vorgegebene Norm zu erfüllen versuchen. Diese Inhaltsangabe klingt allerdings sehr viel trockener als "Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes" tatsächlich ist. Denn Regisseur und Drehbuchautor Julian Radlmaier lässt den von ihm selbst gespielten Protagonisten nicht nur wie einen schlaksigen Charlie Chaplin durch die absurde Geschichte stolpern, sondern weiß auch anderen klassischen Einflüssen durchaus amüsante Seiten abzugewinnen: Das mal leblose, mal manierierte Spiel der Darsteller erinnert an Fassbinder, die oft seltsam leeren Tableaus und das so hochgestochene wie quatschverlorene Geplapper der Protagonisten an die Filme großer französischer Vorbilder wie Godard, Renoir oder Rohmer. Und dank einer herausragenden Kameraarbeit ist auch alles gut anzusehen. Thomas Winkler

D 2017, R+D: JULIAN RADLMAIER, D: DERAGH CAMPBELL, BENIAMIN FORTI, KYUNG-TEAK LIE, ILIA KORKASHVILI U. A., 99 MIN., KINOSTART: 8. JUNI


The Salesman

"In 100 Jahren ist die Welt eine bessere", sagt der junge Lehrer Emad eines Tages zu einem seiner Schüler, den eine Ungerechtigkeit betroffen gemacht hat. Da weiß Emad, der von jetzt auf gleich mit seiner Frau Rana die Wohnung wechseln musste, noch nicht, wie schlecht die Welt tatsächlich ist, in der er und seine Frau leben. Abends stehen sie zusammen auf der Bühne in einem kleinen Theater in Teheran und führen Arthur Millers Tod eines Handlungsreisenden auf. Und so, wie Willy Loman, der Salesman bzw. Handlungsreisende, in Millers Drama immer mehr zur tragischen Figur wächst, gibt Emad in seinem eigenen Leben zunehmend eine Figur ab, die sich aus ihren eigenen Fängen nicht mehr lösen kann. Seine Frau Rana wird in der neuen Wohnung überfallen, als sie entblößt unter der Dusche steht. Emad möchte das Verbrechen bei der Polizei anzeigen, Rana aus lauter Scham nicht. Deshalb macht sich Emad allein auf die Suche nach dem Täter, was die Beziehung zu seiner Frau auf eine harte Probe stellt. Auf der Bühne als Willy und Linda Loman ist ihre Situation auswegslos, als Emad und Rana kämpfen sie auf stille Weise um ihre Liebe. Der Film von Regisseur Asgar Farhadi wurde bei der letzten Oscar-Verleihung dreifach ausgezeichnet. Schon wie in seinem vielgelobten Film Nadar und Simin gelingt es dem Iraner in einer Art Kammerstück, an der Beziehung eines Paares aufzuzeigen, wie Menschen in ihrer Welt verhaftet sind und doch von einer besseren träumen. Ergreifend. Petra Welzel

IRAN/F 2016, R: ASGAR FERHADI, D: SHAHAB HOSSEINI, TARANEH ALIDOOSTI, BABAK KARIMI U. A., DVD PROKINO, 119 MIN.