Ausgabe 05/2017
Der Nestbau kann warten
"Einmal bitte alles"
Isi ist es leid, Hilfsarbeiten zu verrichten, sie will endlich Erfolg mit ihren Buch-Illustrationen. Mit 27 stehen andere bereits im Beruf und gründen eine Familie. Sie aber ist immer noch Single und kommt keinen Schritt weiter, weil sie weder Beziehungen noch einen bekannten Namen hat. Ihre Arbeitsmappen will niemand sehen. Also versucht sie die hartnäckige Tour und drängt sich einer Verlegerin auf. Zu dumm nur, dass die snobistische Alte ihr daraufhin das Praktikum kündigt.
Helene Hufnagel erzählt in ihrem Debütfilm glaubwürdig und mit tragikomischem Humor von der Sinnkrise einer jungen Frau, die sich von ihrem Umfeld abgehängt fühlt, ihre brotlose Kunst jedoch nicht aufgeben will. Die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens, denen sich zahlreiche Coming-of-Age-Filme widmen, sind, wie man sieht, nicht unwillkürlich mit dem Ende der Pubertät ausgestanden.
Luise Heyer, selbst in einem ähnlichen Alter und dank Charisma und Vielseitigkeit eine der besten Nachwuchsdarstellerinnen ihrer Generation, könnte diese auch ein bisschen vom Pech verfolgte Lebenskünstlerin in ihren Ambivalenzen nicht besser ausloten. Einerseits selbstbewusst und rührig, bisweilen in ihrer Wut aber auch kindisch trotzig, muss ihre Isi noch lernen, unabhängiger und gelassener zu werden und bei ihren Ambitionen allerhand Abstriche zu machen. Was freilich leichter gesagt ist als getan: Ausgerechnet ihre beste Freundin und Mitbewohnerin Lotte begibt sich auf einmal auch noch auf den Pfad einer "geordneten" Existenz, nachdem ihr unverhofft eine attraktive Stelle und der Mann ihres Lebens zugefallen sind, von dem sie bald ein Kind erwartet. Somit steht Isi vollends allein da und muss sich - um sich nicht als das fünfte Rad am Wagen zu fühlen - eine neue Bleibe suchen. Ohne feste Einkünfte ist nicht viel drin. Wie der gescheiterte Schauspieler Niko in Jan Ole Gersters Oh Boy! bittet Isi ihren Vater vergeblich um Geld, als der Bankautomat nichts mehr für sie ausspuckt, und so muss sie in einer gammeligen WG zweier Jugendfreunde Quartier aufschlagen.
Wie schön, dass "Einmal bitte alles" trotz all der Enttäuschungen nicht in einem Lamento versackt. Immer wieder rafft sich die Graphic-Novel-Zeichnerin auf, ihren Weg zu gehen. Die pünktlich erwachsen gewordenen, angepassten Nestbauer können dafür in der Midlife-Crisis über ihre Versäumnisse sinnieren. Kirsten Liese
D 2017 REGIE: HELENE HUFNAGEL. D: LUISE HEYER, JYTTE-MERLE BÖHRNSEN, MAXI SCHAFROTH, PATRICK GÜLDENBERG U.A., 86 MIN., KINOSTART: 20. JULI
Meine glückliche Familie
Manana hält es zuhause nicht mehr aus. Nicht wegen unüberwindbarer Konflikte, sondern schlichtweg, weil sie einen Raum für sich braucht. Schon viel zu lange hat die Lehrerin mit ihrem Mann, den inzwischen erwachsenen Kindern und den herrischen alten Eltern beengt in einer Wohnung zusammengelebt, sich um alle gekümmert, stets eigene Bedürfnisse hintangestellt. Mit 52 will sie endlich an sich denken, lesen, Gitarre spielen, die Ruhe genießen. Wenn das so einfach wäre! In Georgien kommt die Emanzipation nur schleppend voran. Manana kann ein Lied davon singen, schon einige ihrer Schützlinge haben mit 15 geheiratet und die Schule abgebrochen, als sie schwanger wurden, und noch nicht einmal die eigene Tochter kann sie davon überzeugen, dass ein Baby noch Zeit hat. Und was für ein Geschrei macht ihre Sippschaft erst, als Manana ihren Auszug ankündigt! Da meint man, es würde die Welt untergehen. Trotz solcher Zustände verströmt dieser leise Film Optimismus, indem er zeigt, wie sich Dinge dank Kraft, Mut und Beharrlichkeit ändern. Kirsten Liese
GE / DE / FR 2016/17, R: NANA EKVTIMISHVILI, SIMON GROSS, D: IA SHUGLIASHVILI, MERAB NINIDZE, BERTA KHAPHAVA, GIORGI KHURTSILAVA U. A., 120 MIN., KINOSTART: 13. JULI
Paradies
Mit dichten, kammerspielartigen Sequenzen erinnert dieses preisgekrönte Meisterwerk an die russischen Emigranten im Widerstand des französischen Vichy-Regimes. Zunächst im Gefängnis, dann im Konzentrationslager findet sich die Aristokratin Olga wieder, nachdem in ihrem Pariser Exil zwei jüdische Jungen entdeckt wurden, die sie versteckt hatte. Fortan ist sie von grausamen, schöngeistigen Nazis abhängig, die sie begehren und sich brüsten, als arische Übermenschen die Hölle erschaffen zu haben. Unter den in dieser Koproduktion brillierenden deutschen Schauspielern hat in der kleineren Rolle eines vergeblich an die Menschlichkeit appellierenden Intellektuellen Jakob Diehl einen starken Auftritt, seinem berühmten Bruder August verblüffend wie aus dem Gesicht geschnitten. Asketisch, streng quadrierte Bilder und verträumte Klänge aus Brahms'schen Klavierintermezzi zeichnen das auch stilistisch radikale, ganz in Schwarzweiß inszenierte Holocaust-Drama aus. Wie eine Schutzhülle legt sich die Musik um die leidgeprüften Verfolgten und konterkariert den sich beklemmend zuspitzenden Fortlauf der Handlung. Kirsten Liese
RU/DE 2016, R: ANDREI KONCHALOVSKY, D: JULIA VYSOTSKAYA, CHRISTIAN CLAUSS, PETER KURTH, PHILIPPE DUQUESNE U. A., 131 MIN., KINOSTART: 27. JULI