Ausgabe 05/2017
Ein Tarifvertrag für alle
Hamburg - Die Diskussion ist nicht neu in der Gewerkschaftsbewegung: Sollen Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden und dann wie ein Gesetz für alle Unternehmen und Beschäftigten der jeweiligen Branche verbindlich gelten oder nicht?
Die Bedenken, dass Beschäftigte den Tarifvertrag als selbstverständlich empfinden und ohne Engagement und Gewerkschaftsmitgliedschaft tarifliche Leistungen wie Tariferhöhungen oder Urlaubs- und Weihnachtsgeld automatisch "mitnehmen", sitzen tief. Ein allgemeiner Rückgang der gewerkschaftlichen Kampfkraft wäre also eine mögliche Folge.
Auf der anderen Seite gibt es das Problem der "Trittbrettfahrer" auch in Unternehmen, in denen es bereits einen Tarifvertrag gibt. Das Hauptargument für mehr allgemeinverbindliche Tarifverträge überschattet ohnehin die gesamte Diskussion: Die zunehmende Tarifflucht, mit der sich Unternehmen höhere Gewinne und Wettbewerbsvorteile auf dem Rücken der Beschäftigten versprechen. Sie setzt ganze Branchen beim Thema Löhne und Arbeitsbedingungen unter Druck und sorgt bei vielen Beschäftigten für untertarifliche Bezahlung - ganz zu schweigen von den Spätfolgen wie niedrige Renten und die Gefahr der Altersarmut. Laut Hans-Böckler-Stiftung gilt mittlerweile überhaupt nur noch für 56 Prozent der Beschäftigten in Deutschland ein Tarifvertrag.
Im Einzelhandel, der größten Dienstleistungsbranche in Deutschland, sind es sogar nur noch 30 Prozent der Beschäftigten, die mit einem Tarifvertrag arbeiten. Das hat beispielsweise zur Folge, dass eine Vollzeitkraft im Verkauf bei einem tarifgebundenen Unternehmen wie Galeria Kaufhof in der Mönckebergstraße, 37,5 Stunden die Woche mit entsprechendem Tarifgehalt arbeitet, während ihre Kollegin nebenan bei Peek & Cloppenburg für die gleiche Tätigkeit weniger Geld bekommt und mehr Stunden arbeiten muss.
Um diese und weitere Ungerechtigkeiten zu beseitigen, möchte der ver.di-Fachbereich Handel die Flächentarifverträge im Einzel- und Versandhandel in Hamburg und darüber hinaus bundesweit wieder für allgemeinverbindlich erklären lassen. Bis ins Jahr 2000 war dies jahrzehntelang der Fall. Zu diesem Schritt muss es aber Einigkeit mit dem Arbeitgeberverband und ein öffentliches Interesse geben. Anschließend kann die sogenannte Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) auf Landes- oder Bundesebene bei dem jeweiligen Ministerium beantragt werden.
Doch die Arbeitgeber im Einzelhandel sträuben sich bisher stark gegen die AVE. Da die Gewerkschaft die Entscheidung über eine Allgemeinverbindlichkeit ihrer Tarifverträge nicht eigenständig treffen kann, müssen die Arbeitgeber und auch die Politik mit im Boot sein.
Wie es gehen kann
Mit der Kampagne "Einer für alle" versucht ver.di seit einiger Zeit, Druck aufzubauen, um möglichst viele Arbeitgeber und die Politik zu überzeugen, diesen wichtigen Schritt gegen Tarifflucht und Dumpinglöhne im Handel doch noch mitzugehen.
Dass eine AVE sinnvoll ist und gut funktionieren kann, zeigt das Hamburger Wach- und Sicherheitsgewerbe. Rund 40 Prozent der 10.000 Sicherheitsbeschäftigten waren bisher in tariflosen Unternehmen tätig. Auch da gab es Lohndumping und Bezahlung unter Tarif. Sogar das Bundesinnenministerium schrieb im Vorfeld des G 20 Gipfels einen Auftrag aus, in dem den Anbietern die Unterschreitung des Tarifvertrages um bis zu fünf Prozent ermöglicht wurde. Damit ist jetzt Schluss. Rückwirkend zum 1. Januar des Jahres haben ver.di und der Bundesverband der Sicherheitswirtschaft (BDSW) bei der Freien- und Hansestadt Hamburg die AVE für den Lohntarifvertrag beantragt. Dem Antrag wurde stattgegeben, der Tariflohn gilt nun für alle. Ein Beispiel, das gerade in Branchen mit hoher Tarifflucht Schule machen sollte. red
Mehr zur Kampagne "Einer für alle" unter: www.handel.verdi.de