Ausgabe 05/2017
Vom Rand der Dunkelheit
KENT HARUF: Unsere Seelen bei Nacht
Holt ist ein verschlafenes Städtchen in Colorado. Ein fiktiver Ort, in dem sich alle Geschichten ereignen, die der US-amerikanische Schriftsteller Kent Haruf geschrieben hat. In Holt/Colorado leben auch Addie und Louis. Beide sind über 70 und allein, doch das soll sich ändern. Eines Tages steht Addie vor der Tür ihres Nachbarn und macht ihm das Angebot, die Nächte hin und wieder mit ihr zu verbringen. Einfach so, um zu reden und die einsamsten und dunkelsten Stunden nicht allein verbringen zu müssen. Louis reagiert zunächst zurückhaltend, lässt sich aber schließlich auf das ungewöhnliche Angebot ein.
In Addies Haus verbringen sie die erste Nacht miteinander und fangen an zu reden - behutsam zunächst, doch mit der Zeit öffnen sie sich immer mehr und tauchen mit jedem Gespräch tiefer in das Leben des anderen ein. Sie erzählen einander von Brüchen, kleinen und großen Katastrophen, Leidenschaft und Langeweile, erfüllten und unerfüllten Träumen und von der An- und Abwesenheit von Glück. Addie hat sehr früh ihre Tochter verloren - ein traumatisches Erlebnis, das nicht nur bei ihr Spuren hinterlassen hat. Louis wiederum konnte den Verlust seiner Frau nie wirklich verarbeiten. So werden die beiden zu Gefährten, die bald nicht nur die Dämonen der Nacht vertreiben, sondern bald auch die Tage miteinander verbringen und sich liebevoll um Addies Enkelsohn kümmern, der von seinen Eltern bei ihr abgeladen wurde, weil diese sich wegen ihrer eigenen Probleme gerade nicht um ihn kümmern können.
Doch Addie und Louis leben in einer Kleinstadt, und das Tun der beiden alten Leute sorgt nicht nur für Gerede, sondern auch für Missgunst und Neid. Auch Addies Sohn beargwöhnt das Miteinander der beiden und droht seiner Mutter schließlich sogar mit dem Entzug des kleinen Enkelsohnes, wenn sie die "abartige und ekelhafte" Beziehung zu Louis nicht beende. Und so wirft nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart wieder harte Schatten in das Leben der beiden. Dennoch: zwei alte Menschen und ein spätes Glück? Romeo und Julia in der amerikanischen Provinz? Nicht mit Kent Haruf. Bei ihm verkommt die Geschichte keineswegs zu kitschigem Gefühlskino. Stattdessen entfaltet er auf unsentimentale und lakonische Weise ein bewegendes Kammerspiel. "Unsere Seelen bei Nacht" ist ein Bericht vom Rande der Dunkelheit, in die eine Zeit lang wieder Licht fällt. Der Roman ist der letzte von Kent Haruf, der kurz nach seiner Vollendung im Jahr 2014 starb. Marion Brasch
KENT HARUF, UNSERE SEELEN BEI NACHT, ÜBERSETZT VON POCIAO, DIOGENES, 208 S., 20 €
Karine Tuil: Die Zeit der Ruhelosen
Ehrgeiz, Gier und Unerbittlichkeit. Drei Persönlichkeitsmerkmale, die für den Weg an die Macht unverzichtbar sind. Die Französin Karine Tuil erzählt in ihrem rasanten Gesellschaftsroman vom Aufstieg und Fall dreier Männer, die nach oben wollen. Osman Diboula, ein schwarzer Streetworker aus der Pariser Banlieue, bringt es zum Berater des Präsidenten. François Vély, Absolvent einer Eliteuniversität, wird als Manager reich und berühmt. Romain Roller, einst perspektivloser Straßenjunge, arbeitet sich zum Soldaten in Führungsposition hoch. Diese Alphatiere stehen für Karrieren um jeden Preis, für eine ruhelose Gesellschaft. Doch aus den Gewinnern werden plötzlich Verlierer - Diboula fällt politischen Intrigen zum Opfer, Vély wird Zielscheibe einer Medienhetze, Roller leidet an einem Afghanistan-Trauma. Karine Tuil berichtet eindringlich und spannend von den großen Konfliktthemen der westlichen Gesellschaft: der Gier der Mächtigen, dem latenten Rassismus sowie der Radikalisierung von Religionen und Medien. Ein schneller, schonungsloser Roman - eine literarische, französische Form von House of Cards. Günter Keil
KARINE TUIL, DIE ZEIT DER RUHELOSEN, ULLSTEIN, ÜBERSETZT VON MAJA UEBERLE-PFAFF, 512 S., 24 €
Nicholas Searle: Das alte Böse
Roy ist über achtzig und des Alleinseins müde. Über ein Datingportal findet er Betty. Was beginnt wie die Geschichte über eine späte Liebe, entpuppt sich bald als handfester Thriller, dessen englischer Originaltitel A Good Liar (Ein guter Lügner) schon erahnen lässt, dass in diesem Roman gelogen wird, dass sich die Balken biegen. Denn Roy ist nicht der, für den er sich ausgibt. Doch er hat die Rechnung ohne Betty gemacht, die nicht so ahnungslos ist, wie es scheint. Schnell wird klar, dass die alte Dame nicht so harmlos ist, wie ihr neuer Gefährte denkt, und dass sie die Abgründe, die Roy hinter der distinguierten Fassade verbirgt, sehr wohl durchschaut. Nicholas Searle gelingt es auf raffinierte Weise, latentes Unbehagen beim Leser zu schüren. Ein Unbehagen, das noch verstärkt wird durch die Rückblenden aus dem Leben von Roy, die immer weiter in die Vergangenheit gehen und einen Charakter offenbaren, der verdorben ist bis ins Mark. Ein perfides Katz- und Mausspiel, gespickt mit schwarzem Humor, wie es sich für einen Briten gehört. Marion Brasch
NICHOLAS SEARLE, DAS ALTE BÖSE, ÜBERSETZT VON JAN SCHÖNHERR, KINDLER VERLAG, 368 S., 19,95 €