Ausgabe 08/2017
Musik
Micatone: The Crack
Der Jazz hat sich nur selten auf den Dancefloor gewagt. Dort ging es ihm meist zu vorhersehbar, zu sehr im Vierviertel-Takt zu. Wenn er sich doch mal in den Club verirrte, dann hatten ihn meist ambitionierte DJs dorthin gelockt. Die eine glückliche Ausnahme, die lange die Regel bestätigte, heißt Micatone: Die Berliner Band um die Sängerin Lisa Bassenge kam vom Jazz, versuchte aber schon zum Beginn der Nullerjahre, die eigene musikalische Herkunft in Einklang zu bringen mit den neuen Errungenschaften der elektronischen Musik. Ein Vorhaben, das dermaßen gut gelang, dass Micatone nun anscheinend ihre Mission für beendet halten. Auf seinem fünften Album The Crack spielt das Quartett halbakustischen Pop-Jazz, der niemandem mehr etwas beweisen muss und entsprechend entspannt dahinschlendert, auf beliebige elektronische Klänge aber konsequent verzichtet. Die extrem geschmackvollen Arrangements verziert Bassenge mit ihrer wolkenlosen Stimme, die selbst vorhersehbare Melodien zum berührenden Moment veredelt - und das Gefühl bestärkt, dass weniger Experiment manchmal dann doch mehr ist. Thomas Winkler
CD, SONAR KOLLEKTIV/INDIGO
Mônica Vasconcelos: The São Paulo Tapes
Samba, Copacabana, Zuckerhut - Klischees, die immer wieder für Brasilien herhalten müssen. Vergessen oder verdrängt, dass sich das fünftgrößte Land unseres Planeten einst im Würgegriff eines repressiven Militärregimes befand. Von 1964 bis 1981 drangsalierte diese Diktatur unter Palmen selbstverständlich auch alle Andersdenkenden unter den Kulturschaffenden. Prominente Musiker wie Gilberto Gil und Caetano Veloso wurden des Landes verwiesen und verbrachten mehrere Jahre im Londoner Exil. Dennoch fanden etliche große Songwriter Mittel und Wege durch die Maschen der Zensur zu schlüpfen: Die verklausulierten Botschaften ihrer poetischen Texte und der von unbeschwerten Bossa-, Samba- und Forró-Rhythmen geschürte Optimismus machten es möglich. Längst zählt dieser gesungene Widerstand zum kollektiven Bewusstsein der Brasilianer. Der in London lebenden brasilianischen Sängerin und BBC-Moderatorin Mônica Vasconcelos und ihrer erstklassigen Band ist es zu verdanken, dass diese Songs durch ihre frisch aufgemöbelten Arrangements zu neuen Ehren gelangen. Ein kleiner Triumph! Peter Rixen
CD, NOVAS / GALILEO
Lydia Daher: Wir hatten Großes vor
Sie planen, einen hippen T-Shirt-Shop in einem gentrifizierungsgeplagten Großstadtbezirk zu eröffnen? Sie suchen noch Sprüche, die den Urbaniten und Hipstern so aus der Seele sprechen, dass sie die auf ihrer Brust herumtragen wollen? Dann bedienen Sie sich am besten bei Lydia Daher. Schon der Titel des vierten Albums der Berlinerin ist absolut T-Shirt-tauglich: Wir hatten Großes vor. Aber leider - will man unwillkürlich ergänzen - ist nichts draus geworden. Auch anderes macht sich gut in dem selbstironischen Werk: "Sie haben gesagt, es gibt einen Weg. Leider kann ich ihn nicht sehen". Ein Angebot für Opfer der modernen Kommunikations- und Arbeitswelt: "Ich komme hier nicht weg, obwohl ich dauernd renne." Man merkt nahezu jeder Zeile an, dass Daher nicht nur, wie sie singt, "fest angestellt in einer Agentur für Zweifel" ist, sondern im Hauptberuf als Lyrikerin arbeitet: Ihr Abgesang auf eine an sich selbst gescheiterte Generation kommt in solch klugen und dabei wohlformulierten Sätzen daher, wie sie im deutschsprachigen Pop sonst selten zu finden sind. Die Musik dazu ist angemessen verschroben, wenn der Pop sich immer wieder in Jazz und Experiment auflöst. Thomas Winkler
CD, TRIKONT / INDIGO