Henrik Müller war viele Jahre Redakteur bei Gewerkschaftszeitungen

Die künstliche Aufregung der letzten Wochen über den Schutz unserer „Heimat“ vor Schutzsuchenden und das Versagen „unserer Jungs“ in Russland hat einige tatsächlich wichtige Regierungspläne an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung gedrängt. Zum Beispiel hat das Bundeskabinett am 27. Juni 2018 den Entwurf eines milliardenschweren Familienentlastungsgesetzes beschlossen – sozusagen im Vorbeigehen. Okay, die Erhöhung des Kindergeldes und die Steigerung der Kinderfreibeträge sind bereits im Koalitionsvertrag festgelegt. Aber gemessen an dem Aufruhr in Politik und Medien, den auch noch so geringe finanzielle Besserstellungen breiter Bevölkerungsschichten üblicherweise verursachen, scheint dieses Entlastungsgesetz ziemlich geräuschlos über die Gesetzgebungsbühne zu gehen. Zumal die Regierung in einem Aufwasch damit auch das Problem der „kalten Progression“ lösen will. Fast zehn Milliarden Euro also sollen ab 2019 alljährlich zusätzlich unter‘s Volk gebracht werden. Besserverdienende bekommen davon allerdings umso mehr, je höher ihr Einkommen ist. Für die „Mittelschicht“ wird – als „Nasenwasser“ – das Kindergeld zum 1. Juli 2019 um 10 Euro pro Kind und Monat erhöht (von 194 auf 204 Euro), während bei Spitzenverdienern die Steuerersparnis von 272 um 14 auf bis zu 286 Euro steigt. Und wer sowieso auf dem Trockenen sitzt, kriegt überhaupt nichts ab: zum Beispiel die 1,8 Millionen Kinder im Hartz-IV-Bezug und ihre Familien. Ihr Kindergeld wird auf ihre Grundsicherung angerechnet. Sie werden auch von der Senkung der Sozialversicherungsbeiträge nichts haben, wie sie der Bundessozialminister angekündigt hat, weil sie ohnehin keine zahlen. Von einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit kann also keine Rede sein. Im Gegenteil: Was Union und SPD bisher steuer- und sozialpolitisch beschlossen und angekündigt haben, verschärft – wenn auch unmerklich – erneut die materielle Ungleichheit zwischen unten und oben.