Ausgabe 03/2019
28 Morde, 150 Morddrohungen
Forderung nach „mehr Arbeit, weniger Armut“: Die Regierung von Iván Duque bietet für die sozialen Probleme keine Lösungen an. Die Umsetzung des Abkommens mit der FARC-Guerilla wird von ihr blockiert, der Frieden in Kolumbien bleibt gefährdet. Demonstration in Bogotá, 7.8.2018
Unter schwierigen Bedingungen versucht der größte Gewerkschaftsverband Kolumbiens, neue Mitglieder und mehr Einfluss zu gewinnen. Vorsitzender der Central Unitaria de Trabajadores (CUT) ist seit Oktober 2018 Diógenes Orjuela. Zuvor stand er mehrere Jahre an der Spitze der Lehrergewerkschaft in der Provinz Meta und leitete zuletzt die internationale Abteilung der CUT. VER.DI PUBLIK: Seit dem 7. August 2018 ist Iván Duque vom rechtsgerichteten Centro Democrático (CD) Präsident von Kolumbien. Wie steht seine Regierung zu den Gewerkschaften?ORJUELA: Diese Regierung ignoriert alle Vereinbarungen auf nationaler und internationaler Ebene, Angriffe auf gewerkschaftliche Strukturen zu unterbinden. Währenddessen verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen für viele Kolumbianerinnen und Kolumbianer massiv. Heute sind mehr als 60 Prozent im informellen Sektor beschäftigt. Vor dreißig Jahren wurde uns das neoliberale Modell verordnet. Damit gehen Angriffe auf die Gewerkschaften einher. In dieser Zeit wurden etwa 3.000 Funktionäre und einfache Mitglieder ermordet. VER.DI PUBLIK: Hinter solchen Verbrechen stecken meist Paramilitärs und Killer in den Diensten von Unternehmern. Wie ernst ist die aktuelle Lage? ORJUELA: Für 2018 sind bis Ende November nicht weniger als 28 Morde an Gewerkschaftern dokumentiert. Dazu kommen fast 150 Morddrohungen. Die Gewalt erschwert es uns zu wachsen. Umso wichtiger ist die internationale Solidarität. Derzeit sind etwa eine Million Kolumbianer gewerkschaftlich organisiert, meist aus dem öffentlichen Sektor. Das sind nur etwa vier Prozent der arbeitenden Bevölkerung. Das wollen wir ändern. In den vergangenen fünf Jahren hat die CUT jeweils 20.000 Mitglieder hinzugewinnen können, und wir steuern jetzt auf die Zahl von 600.000 Mitgliedern zu.VER.DI PUBLIK: Was erschwert das Organizing im privaten Sektor? ORJUELA: Von den Privatunternehmen schlägt uns eine beispiellose Aggressivität entgegen. Ein Instrument, das systematisch genutzt wird, um uns auszuboten, ist der Pacto Colectivo – eine Art Tarifvertrag ohne Gewerkschaft. Ein anderes die Gründung von „gelben“, den Unternehmern nahestehenden Scheingewerkschaften.VER.DI PUBLIK: Wie schätzen Sie den von der Regierung jüngst vorgelegten Nationalen Entwicklungsplan ein? ORJUELA: Wir lehnen ihn ab und demonstrieren dagegen. Dieser Plan setzt auf Prekarisierung. Dazu gehört die anvisierte weitere Flexibilisierung von Arbeitsverträgen mit Jobs auf Stundenbasis und ohne soziale Absicherung. Er steht im Widerspruch zu den Regeln der Internationalen Arbeitsorganisation über Arbeitsrechte. Eine Zuspitzung der Konfrontation mit der Regierung ist damit programmiert.
Diógenes Orjuela
VER.DI PUBLIK: Ende 2018 wurde der gesetzliche Mindestlohn um sechs Prozent angehoben. Warum hat die CUT das entsprechende Abkommen nicht unterzeichnet? ORJUELA: Der neue Mindestlohn (umgerechnet etwa 232 Euro, d. Red.) reicht für den Grundbedarf einer Familie nicht aus. Er ist auch zu niedrig, um die Binnennachfrage anzukurbeln und so die kriselnde Wirtschaft zu reanimieren. Wir hatten eine Erhöhung des Mindestlohns um 12 Prozent vorgeschlagen. Generell setzen wir uns für seine Verdopplung in den kommenden vier bis fünf Jahren ein.
VER.DI PUBLIK: Wer sind die Lohnbremser? ORJUELA: Regierung und große Unternehmen setzen auf Niedriglöhne als Kostenvorteil, sie wollen so Auslandsinvestitionen anlocken. Den Preis zahlen die Beschäftigten mit prekären Lebensverhältnissen.
VER.DI PUBLIK: In Kolumbien ansässige Multis – wie DHL und Siemens aus Deutschland – bekennen sich zu fairen Arbeitsbedingungen. Was bewirkt das?ORJUELA: In Kolumbien haben solche Selbstverpflichtungen keinerlei Folgen, weil das Arbeitsministerium deren Umsetzung nicht kontrolliert. Internationale Unternehmen agieren hier wie ein Staat im Staat. Sie machen enorme Gewinne, welche sie dann ins Ausland transferieren.VER.DI PUBLIK: Seit 2006 vollzieht die CUT den Wandel von der klassischen Betriebs- zu einer Sektorengewerkschaft. Wie ist hierbei der Stand?DIÓGENES ORJUELA: Wir kommen voran, obwohl die geltenden Gesetze an der Betriebsgewerkschaft orientiert sind und nicht an einer Verhandlung von Tarifverträgen für Branchen. Gute Beispiele sind unsere Lehrergewerkschaft und Sintrainagro, wo sich bereits 30.000 Beschäftigte in der Agrarindustrie organisiert haben. VER.DI PUBLIK: Der Friedensvertrag mit der FARC-Guerilla beendete 2016 einen langen bewaffneten Konflikt in Kolumbien. Wie sieht es mit der Umsetzung aus?ORJUELA: Die Situation ist frustrierend. Den Tausenden entwaffneten früheren Guerilleros werden vereinbarte Reintegrationsmaßnahmen vorenthalten. Auch andere Teile des Abkommens werden unterlaufen oder nicht ausreichend finanziert. Gleichzeitig nehmen Drohungen und Gewalt gegen Menschenrechtler, soziale und politische Aktivisten zu. INTERVIEW: Knut Henkel