Ausgabe 04/2019
Geraubte Kindheit
Ausstellung
Gespräche über die Schicksale ehemaliger Kriegskinder
„Geraubte Kindheit – Wenn Erwachsene Krieg spielen“ ist der Titel einer Ausstellung in Leipzig mit Fotos von Michael Oertel. Der kleine Kulturbetrieb Wolkenschachlenkwal zeigt Portraits von Kriegskindern aus dem 2. Weltkrieg.
Wer das kleine Haus im Schatten des Völkerschlachtdenkmals betritt, begegnet den mittlerweile hoch betagten Kriegskindern sozusagen auf Augenhöhe: Ernst, meist nachdenklich schauen sie aus Schwarz-Weiß-Fotos dem Betrachter direkt ins Auge. Unter jedem der 38 Portraits hängt ein Zitat, gedruckt auf verblassten Taschentüchern, die wohl auch manche Träne getrocknet haben.
„Ist das Kriegsleid schon vergessen?“ fragt Reinhard, Jahrgang 1937. Und unter einem anderen Foto: „--- liefen die Ratten über den gedeckten Tisch“, ist auf dem umhäkelten Taschentuch von Gerda, geboren 1928, zu lesen. Unter dem Foto von Galina aus der Sowjetunion steht: „Schrecklicher als die Bombenangriffe war die Angst, meine Mutter zu verlieren.“ Im Nebenraum ist eine Sammlung von Kinderbildern aus alten Familienalben zu sehen: Lockenköpfe mit Schleifen im Haar und Kinder mit Schultüten im Arm, vergangene schöne Momente. Daneben beklemmende Bilder, die russische Kinder zu Erzählungen über den Krieg gemalt haben. Drei Portraits von Kriegskindern aus Vietnam, Bosnien und Syrien schlagen die Brücke in die Gegenwart.
Verdrängte Leiden machen krank
Man möchte mehr über diese Menschen und ihre Geschichte erfahren. Nachlesen kann man ihre Erlebnisse in dem Buch „Der 2. Weltkrieg. Kriegskinder aus vier Nationen erinnern sich“, das die Soziologin Liselotte Bieback-Diel geschrieben hat. Den Anstoß dazu hatte ihr ein internationaler Kongress in Frankfurt am Main über die Spätfolgen und schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei Kriegskindern gegeben. „Da ging es vor allem um Kriegskinder des zweiten Weltkriegs. Es ist so viel verdrängt worden“, erklärt die ehemalige Dresdener Professorin Bieback-Diel bei der Eröffnung der Foto-Ausstellung.
Die Interviews und selbstverfassten Berichte in ihrem Buch „sollen helfen, sich selbst zu verstehen, sich Hilfe zu holen und das Leid nicht an die eigenen Kinder weiterzugeben“. Es kommen auch Kriegskinder aus England, Frankreich und der Sowjetunion zu Wort. Michael Oertel kennt die Professorin noch von seinem Studium der Sozialarbeit her und ist nun selber Dozent an der Leipziger Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK). Ihr Buch weckte bei Oertel den Wunsch, die Betroffenen persönlich kennenzulernen und eine Ausstellung mit ihnen zu machen. Dabei kam es zu vielen bewegenden Momenten. Wie bei Reinhard Stoll, heute 82 Jahre alt. „Er fiel mir weinend um den Hals und sagte: Dass ich heutzutage nochmal darüber sprechen kann“, erzählt Oertel. „Und dass Frieden wieder ein Thema ist, das macht mir Hoffnung.“
Schulprojekt stößt auf gute Resonanz
Angesichts der angespannten internationalen Lage findet Michael Oertel: „Wir müssen endlich über Frieden reden, statt ständig Krieg zu spielen. Wir wissen, wie es geht: Lieben, Frieden machen. Aber das Gegenteil passiert: Hass, Krieg. Warum?“ Er glaubt: „Der Mensch stellt sich seiner persönlichen Verantwortung nicht.“ Deswegen möchte er mit Kriegskindern an Schulen gehen, um die Schrecken des Krieges greifbarer zu machen. Ein dreitägiges Pilotprojekt hat es schon gegeben an einer Leipziger Waldorf-Gesamtschule. „Am ersten Tag habe ich die Kinder gefragt, ob sie schon vom 2. Weltkrieg gehört haben und was sie wissen.“ Am zweiten Tag konnten die Kinder Freya Eckart, die als Kind den Krieg in Japan erlebt hat, und die Buchautorin Bieback-Diel mit Fragen löchern. „Die Kinder der neunten Klasse waren traurig, als das Projekt zu Ende war. Das Projekt wird jetzt an weiteren Schulen laufen“, berichtet Oertel. Dann will auch ein bosnisches Kriegskind mitkommen.Ab September soll die Ausstellung dann auch in anderen Orten zu sehen sein.
Die Ausstellung „Geraubte Kindheit – wenn die Erwachsen Krieg spielen“ ist noch bis zum 1. September in Leipzig zu sehen im WolkenSchachLenkWal, Friedhofsweg 10. Kontakt: micha.oertel@online.de, michaeloertel.com