Alina Bronsky: Der Zopf meiner Großmutter

Alina Bronsky weiß genau, worüber sie schreibt. Die Berliner Autorin kam Anfang der Neunzigerjahre mit ihrer russischen Familie nach Deutschland. In ihrem neuen Roman spielen ein Junge und seine Oma die Hauptrollen – sie sind zusammen mit dem Opa eingewandert. Aus Russland. Nun sitzen sie in einem deutschen Flüchtlingsheim und müssen sich erst einmal an das fremde Land gewöhnen. Was nicht einfach ist, wenn man wie diese skurrile Großmutter überall Keime und Bakterien wittert. Also desinfiziert sie jeden Gegenstand, bevor sie ihn berührt. Damit nicht genug: Die argwöhnische Alte findet nahezu alles schlimm an Deutschland, und sie gibt vor, ihren Enkel rund um die Uhr beschützen zu müssen. Vor Ärzten und Schulen, vor türkischen und arabischen Mitschülern, und vor allem vor Juden. Dass die Großmutter ihre eigene Einreise nur durch einen vagen jüdischen Familienhintergrund erreicht hat, ändert an ihren Vorurteilen nichts. Sie höhnt und stöhnt, schimpft und manipuliert. Und sie macht ihrem Enkelkind Max das Leben zur Hölle. Für sie ist er ein Dummkopf und eine Plage. Max erzählt aus seiner kindlichen Perspektive von den Schikanen seiner Oma; das macht den besonderen Reiz dieses bitterbösen, aber auch urkomischen Romans aus. Denn Alina Bronsky schreibt nicht nur schnoddrig und witzig übers Ankommen und Eingewöhnen. Sie zeigt darüber hinaus, wie man sich von Vorurteilen lösen kann.

Die Großmutter widerspricht sich permanent, und sie behauptet Dinge, von denen sie keine Ahnung hat – das lernt ihr Enkel schnell. Max durchschaut seine Oma. Zunächst eingeschüchtert, fällt es dem Jungen zwar noch schwer, in der deutschen Gesellschaft Fuß zu fassen. Doch je mehr er sich von seinem herrischen Vormund löst, umso mehr findet er seinen eigenen Weg. Einen Großvater gibt es übrigens auch, aber der steht in der familiären Befehlskette ganz unten. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen sorgt er für einen Skandal, den Max schneller begreift als seine Oma. Alina Bronsky hat ein großartiges Gespür für Situationskomik und schräge Figuren. Sogar die Großmutter, die meist im Jogginganzug oder im paillettenbesetzen Glitzerkleid herumläuft, kann man trotz ihrer Ruppigkeit liebgewinnen. Der lakonische Ton von Bronskys Geschichte mag täuschen - dahinter steckt ein warmherziger Blick auf geflüchtete Menschen mit seltsam anmutenden Verhaltensweisen. Günter Keil

Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten, 20 €


Inge Löhnig: Unbarmherzig

Krimis, die sich politischen oder historischen Themen widmen, wirken häufig verkrampft, genretypische Elemente sind dann nur Beiwerk zum Sachthema. Inge Löhnig gelingt mit Unbarmherzig der Beweis, dass gute Autorinnen beispielsweise Verbrechen aus der deutschen Geschichte in einen spannenden Krimi integrieren können, ohne die Leserschaft moralisierend zu belehren. Gina Angelucci, junge Mutter und Spezialistin für ungeklärte Mordfälle bei der Münchner Kripo, wird mit Knochenfunden konfrontiert, anhand derer sie zwei Mordopfer von 1944 identifizieren lässt und im Wortsinne mächtig Staub im idyllischen Altenbruck aufwirbelt. Denn das weibliche Opfer war eine lettische Zwangsarbeiterin in der nahen Heeresmunitionsanstalt, die nun Teil eines neuen Gewerbegebietes werden soll. Da kämpfen Geschichtsvergessene gegen Aufklärer, Neunazis gegen aufrechte Demokraten; Wunden aus dem tausendjährigen Reich brechen auf, seit Generationen verfeindete Familien verdächtigen sich der Morde. Löhnig zeichnet äußerst differenzierte Charaktere vor einem großartig recherchierten Hintergrund, hält mit immer geheimnisvolleren Wendungen die Leserschaft in Spannung und lässt auf geradezu herzzerreißende Weise das Schicksal von Zwangsarbeiterinnen lebendig werden. Angeluccis dritter Fall kann kommen. Ulla Lessmann

Ullstein, 384 S., 12,99 €


Alexander Pechmann: Die Nebelkrähe

London 1923. Der junge Wissenschaftler Peter Vane kann nicht schlafen. Eine Kinderstimme wispert immer wieder denselben Namen: Lily. Doch wer ist das? Und steht der Name vielleicht in Verbindung mit dem Foto, das ihm sein im Krieg verschollener Freund Finley zugesteckt hat? Peter Vane ist ein rationaler Mensch, mit Esoterik und paranormalen Phänomenen hat er nichts am Hut. Dennoch folgt er dem Rat eines Freundes und nimmt an einer Séance mit der berühmten irischen Spiritistin Hester Dowden teil. Doch dort kommt er nicht in Kontakt mit Lily, sondern mit Oscar Wilde, der eigentlich schon lange tot ist. Kurz darauf stellt sich heraus, dass die Frau, die ihn im roten Bentley durch die Gegend kutschiert, Oscar Wildes Nichte ist. Alles Zufall? Nicht alles, die Geschichte hat einen durchaus realen Bezug, denn die auftretenden Personen gab es wirklich. Hester Dowden hatte sich tatsächlich einen gewissen Ruf als „Medium“ erworben, als sie behauptete, mit Oscar Wilde kommuniziert zu haben. Bei jener Séance sei ein gewisser Mr. V. dabei gewesen – jener Peter Vane, der sich mit der jungen, lebenshungrigen Dorothy Wilde durch das London der 20er Jahre bewegt, auf der Suche nach den Spuren von Lily. Ein im doppelten Sinne des Wortes geistreicher Detektivroman der anderen Art. Marion Brasch

Steidl Verlag, 176 Seiten, 18 €