Benni rastet oft aus, schreit, flucht, schlägt um sich, haut andere Kinder und schmeißt Sachen durch die Gegend. Folglich will jede Pflegefamilie, Wohngruppe oder Sonderschule sie schnell wieder loswerden. Selbst erfahrenste Sozialarbeiter kapitulieren vor dem „Systemsprenger“, wie solche Problemkinder in der Fachsprache der Jugendämter heißen, die sich in keine Institution integrieren und mit keiner Erziehungsmaßnahme helfen lassen wollen.

Wer annimmt, dass uns die Neunjährige ebenfalls bald auf die Nerven gehen könnte, wird wohl angenehm enttäuscht, lässt Regisseurin Fingscheidt doch spüren, dass Benni kein böses Kind ist, sondern eines, dessen Leben von ständigen Zurückweisungen geprägt wurde. Färben sich die Bilder rot und zersplittern wie Bruchstücke aus Alpträumen, ist die Alarmstufe erreicht. Ganz bei diesem Mädchen ist man dann und fürchtet um sein Wohl und das seiner Umgebung. Das Jugendamt trifft keine Schuld. Die verständnisvolle Frau Bafané unternimmt alles, was in ihrer Macht steht, um Bennis ersehnte Rückkehr zur Mutter zu ermöglichen. Die aber hat Angst vor der eigenen Tochter, ist mit noch zwei weiteren kleinen Kindern stark überfordert und macht mit leeren Versprechen alles noch schlimmer.

Hoffnungsvoller lässt sich die Radikalkur an, mit der Anti-Gewalttrainer Micha der Rebellin auf die Sprünge helfen will. Für ein paar Wochen zieht er mit ihr in eine Blockhütte in den Wald. In der Abgeschiedenheit stärker angewiesen auf den Betreuer, lernt Benni, Aufgaben zu übernehmen, will sie nicht verhungern. Sie holt Milch vom Bauern, geht Micha bei handwerklichen Arbeiten zur Hand, gibt sukzessive ihre Verweigerungshaltung auf. In vertraulichen Gesprächen, in denen der Mann auch von eigenen Lebenskrisen erzählt, entwickelt sich eine Freundschaft. Doch als Benni sich nach der Rückkehr in die Zivilisation verzweifelt an Micha klammert, gerät auch er an seine Grenzen.

Ein unbeschwertes Kinoerlebnis beschert der vielfach ausgezeichnete, spannende Erstling freilich nicht, aber wertvolle Erkenntnisse: Um ihrem Dilemma zu entkommen, bräuchten Kinder wie Benni eine Bezugsperson, die bereit wäre, sich dauerhaft auf sie einzulassen. Dazu müsste sich das deutsche Sozialgesetz allerdings noch ändern, das einen solchen Anspruch bisher nicht vorsieht. Kirsten LieseD 2019; REGIE: NORA FINGSCHEIDT; D: HELENA ZENGEL, ALBRECHT SCHUCHT, GABRIELE MARIA SCHMEIDE U . A.; 110 MIN.; KINOSTART: 19. SEPTEMBER


Nurejew – The White Crow

Paris in den 1960er Jahren: Der Kalte Krieg tobt auf seinem Höhepunkt. Die Sowjetunion schickt ihre beste Tanzkompanie in den Westen, um künstlerische Stärke zu demonstrieren. Das Leningrader Kirow-Ballett begeistert die Pariser Zuschauer. Doch ein Mann sorgt für die Sensation: der virtuose junge Tänzer Rudolf Nurejew mit seinem unwiderstehlichen Charisma, der die männliche Performance neu erfindet. Attraktiv, rebellisch und neugierig, lässt er sich vom kulturellen Leben der Stadt mitreißen. Begleitet von der jungen Chilenin Clara Saint streift er durch die Museen und Jazz-Clubs der Stadt. Sehr zum Missfallen der KGB-Agenten, die ihm folgen. Doch Nurejew genießt den Geschmack der Freiheit. Ein riskantes Katz- und Mausspiel mit dem sowjetischen Geheimdienst beginnt. Das ambitionierte Tänzer-Biopic überzeugt nicht nur durch seine Tanzszenen, sondern entwickelt sich zum spannenden Polit-Thriller mit Hitchcock-Qualitäten. Die Rolle des legendären Nurejews interpretiert eindrucksvoll der ukrainische Weltklasse-Balletttänzer Oleg Ivenko. Außenseiter, heißt es zu Beginn, werden als „weiße Krähe“ bezeichnet. Und der kleine Rudi ist von Anfang an etwas Besonderes. Luitgard Koch

UK/F, SRB 2018; R: RALPH FIENNES; D: OLEG IVENKO, RALPH FIENNES, ADÈLE EXARCHOPOULOS, ALEXEY MOROZOV, U.A.; 122 MIN.; KINOSTART: 26. SEPTEMBER


Late Night – Die Show ihres Lebens

Seit Jahren schon moderiert Katherine Newbury spätabends ihre eigene Talkshow. Aus dem Fernsehen ist sie nicht mehr wegzudenken. So dachte die inzwischen 50-Jährige. Umso größer der Schock, als sie eines Tages erfährt, dass sie aus ihrer eigenen Sendung gedrängt und durch einen jüngeren Mann ersetzt werden soll. Das will sich Katherine natürlich nicht so einfach gefallen lassen. Und so setzt sie alles auf ihre neue unerfahrene, aber zielstrebige Quereinsteigerin Molly, die erste Frau in ihrem männlichen Autorenteam. Aber gibt es in diesem schnelllebigen Geschäft überhaupt noch Platz für eine Frau jenseits der Fünfzig? Diskriminierung von Älteren, der Umgang mit Minderheiten, die Bedingungen von Frauen im Showbusiness, Themen, die unsere Gesellschaft derzeit beschäftigen, greift die unterhaltsame, geistreiche Komödie auf und zeigt ganz nebenbei, wie man mit Privilegien auch verantwortungsvoll umgehen kann. Dabei gelingt es dem Traumtrio aus Regisseurin Nisha Ganatra, Hauptdarstellerin Emma Thompson und Schauspielerin Mindy Kaling, das Ganze mit herrlich pointiertem Humor auf die Leinwand zu bringen. Treffsichere Dialoge entlarven Rassismus und Sexismus gezielt. Im Originalton erfreut noch zusätzlich Emma Thompsons distinguiert-snobistisches Englisch. Luitgard Koch

USA 2018; R: NISHA GANATRA; D: EMMA THOMPSON, MINDY KALING, JOHN LITHGOW, REID SCOTT, AMY RYAN, MAX CASELLA U.A.; 100 MIN.; KIN0START: 29. August