Ausgabe 05/2019
Grenzen des Zeigbaren
Patricia Kühfuss, 30, hat Fotojournalismus studiert und für ihre Bachelorarbeit „Nicht müde werden“ im vergangenen Jahr Pflegekräfte im Krankenhaus fotografiert. Mit ihren Bildern möchte sie mehr Aufmerksamkeit für die Arbeit in der Pflege schaffen. Ein Gespräch über ihre Motivation und fotografische Herangehensweise.VER.DI PUBLIK: Wie bist du auf das Thema Pflege gestoßen?PATRICIA KÜHFUSS: Ich habe lange in einer WG mit Krankenpflegern zusammengewohnt. Mit der Zeit erfuhr ich viel über ihre Arbeitsbedingungen. Ich habe mich gefragt, warum eine so wichtige Berufsgruppe so schlechte Arbeitsbedingungen hat und in der Öffentlichkeit so wenig gesehen und unterstützt wird.VER.DI PUBLIK: Was hat das mit Fotografie zu tun?KÜHFUSS: Ich denke, ein Teil des Problems ist, dass wir als Gesellschaft glauben, was wir sehen. Die Bilder, mit denen Themen aus dem Krankenhaus bebildert werden, folgen einem ganz bestimmten Muster. In der Farbpalette dominieren Hochweiß und Krankenhausblau. Rot oder Braun kommen nicht vor. Auf klinisch reinen Bildern steht fast immer eine Pflegekraft am Krankenbett und macht etwas Unklares, von dem nicht erkennbar ist, was das ist. Jemand liegt im Bett. Jemand steht am Bett. Oft sieht man Personen von hinten. Das ist meist keine reale Situation, sondern ein Symbolbild, und das hat einen Grund: Da die Krankenpflege selbst schon in die Intimsphäre der Patienten eingreift, fällt es umso schwerer, diese Arbeit zu fotografieren. Die Pflegearbeit bleibt unsichtbar und damit auch ihre Leistung. Auf dem typischen Agenturfoto werden Krankenbetten geschoben. Hinzu kommt ein von den Medien geprägtes Bild der hübschen Krankenschwester als sich kümmerndes Sexsymbol, im Gegensatz zum kompetenten Arzt, der Anweisungen gibt oder beeindruckende Operationen durchführt. Wenn es um einen bedenklichen Zustand geht, dann um den des Patienten. Wenn die Pflegearbeit aber nie im Fokus steht, wie soll man sie dann schätzen?VER.DI PUBLIK: Was machst du anders?KÜHFUSS: Ich versuche unsere Bilder im Kopf zu erweitern, soweit dies mit Blick auf die Patientenwürde möglich ist. Ich zeige echte Arbeitssituationen: Das Lagern übergewichtiger Menschen, Wundversorgung, eine nicht gestellte Herzdruckmassage, bei der es um Leben und Tod geht, aber auch die einfacheren Tätigkeiten, die genauso lebenswichtig sind. Mich interessiert: Was spielt sich im Gesicht einer Pflegekraft beim Anblick eines Patienten ab? Was macht diese Arbeit mit ihr? Ich fotografiere alte Haut, den nackten Körper, Blut – Dinge, die in diesem Kosmos Alltag sind, die wir oft aber lieber nicht sehen wollen und als schmutzig empfinden. Obwohl die Bilder noch zurückhaltend sind, sind sie offenbar für manche Redaktionen so real, dass sie schon abgelehnt wurden, da man keine Bilder drucken wolle, „die riechen“. Ich bin aber der Meinung, was wir nicht zeigen, verrät auch, wo in unserer Gesellschaft die Grenzen des Zeigbaren sind; wo wir uns trauen hinzuschauen und was wir ausblenden. Auch wenn Instagram uns etwas anderes erzählen will, besteht unser Leben zu weiten Teilen nicht aus einem gesunden, perfekten Körper. Blut gibt es nicht nur im Kino. Ich möchte die Pflegearbeit sichtbar machen, da Pflegekräfte uns dann begleiten, wenn wir sie dringend brauchen.VER.DI PUBLIK: Also ganz nah ans Motiv?KÜHFUSS: Ja. Bei meiner Recherche wurde mir erst klar, wie unser Gesundheitssystem funktioniert. Kliniken rechnen über Fallpauschalen und Diagnosen ab: der Blinddarm, der Herzinfarkt, der diabetische Fuß. Alles ist zerstückelt, der Patient als ganzer Mensch gerät aus dem Blick. Deshalb habe ich Ausschnitte fotografiert, die arbeitende Hände der Pflegekräfte zeigen. Pflegekräfte halten nicht nur Seniorenhände, wie man es in den Medien immer sieht. Hier arbeiten Fachkräfte. Das Versorgen einer Wunde gehört zum Beruf, das Lagern, Waschen, Essen anreichen, das Kontrollieren von Drainagen und Infusionen, Blutzuckermessen, Hilfe bei der Toilette, die Bereitstellung der Medikamente, die Reanimation, das Schreiben der Pflegeberichte und das Bedienen der Beatmungsmaschine und noch viel mehr. All diese Handgriffe finden statt, lassen sich aber in Fallpauschalen oft nicht abrechnen, ganz im Gegensatz zu einer Operation. Meine Bilder holen die Handgriffe zurück in unser Bewusstsein, da sie genauso wichtig sind, um gesund zu werden.VER.DI PUBLIK: Was ist dir noch wichtig?KÜHFUSS: Zwischenmenschliches, soziale Kompetenz. Die Pflegerinnen und Pfleger müssen tagtäglich über Schamgrenzen gehen, ohne den Menschen dabei ihre Würde zu nehmen. Sie sollen Patienten und ihre Angehörigen in Extremsituationen ihres Lebens kompetent begleiten. Dieses Zwischenmenschliche ist steter Begleiter ihrer Arbeit, aber schwer sichtbar zu machen. Um gute Pflege zu leisten, braucht man Zeit – auch um Ressourcen aufzuladen und für sich selbst zu sorgen. Deshalb zeige ich auch das Gesicht eines Pflegers, der gerade erfolglos einen Menschen reanimiert hat und gleich einen anderen betten muss. Bei den Porträt-Aufnahmen habe ich mich für Schwarz-Weiß entschieden, weil es den Bildern mehr Ruhe gibt. VER.DI PUBLIK: Was ziehst du für dich aus dem Projekt?KÜHFUSS: Ich bin froh, dass ich einen Einblick in die Arbeit von Pflegekräften bekommen durfte. Pflegen vereint medizinische Fachkompetenz mit Seelsorge, gleichzeitig ist es zum Teil schwere körperliche Arbeit. Es ist ein spannender Beruf, aber die Verantwortung ist auch groß. Pflegekräfte sind anders als Ärzte immer da und begleiten die Patienten rund um die Uhr. Sie dürfen in ihrer Konzentration nie nachlassen, dürfen nicht müde werden. Deshalb auch der Titel meiner Arbeit. Auch wenn es nicht leicht ist, den Beruf fotografisch darzustellen, denkt der Leser beim Anblick eines Symbolbildes aus dem Krankenhausalltag vielleicht künftig auch an das, was man nicht sieht. Das würde mich freuen. Der Wert der Pflege ist nicht verhandelbar.
INTERVIEW: Marion Lühring