Ausgabe 05/2019
„Und ja, das ist auch der Vorsitzende“
VER.DI PUBLIK: Ende September tagt der 5. ver.di-Bundeskongress in Leipzig. Du willst Dich nicht wieder als Vorsitzender zur Wahl stellen. Sicher?FRANK BSIRSKE: Ja. Ich habe beim letzten Kongress dazu eine klare Aussage getroffen, und die wird natürlich eingehalten.
VER.DI PUBLIK: Du bist seit ver.di-Gründung, also seit 18 Jahren ver.di-Vorsitzender. Was ist Dir im Rückblick besonders wichtig, was waren die größten Erfolge?BSIRSKE: Zunächst einmal, dass es gelungen ist, mit ver.di die starke Dienstleistungsgewerkschaft in Deutschland zu schaffen. Und dass ver.di heute ein Begriff ist, wenn in Deutschland an Gewerkschaften gedacht wird, eine Marke, eine Organisation mit einer ganz eigenen Organisationskultur, diskursiver, weiblicher, pluralistischer, weniger hierarchisch geprägt und zugleich politischer als andere Gewerkschaften, das gehört definitiv zu den Erfolgen der Arbeit dieser 18 Jahre. Eine Organisation geschaffen zu haben, die ihr gesellschaftliches Gewicht für die Mitglieder einzusetzen weiß und Wirkung erzielt. Mit der es gelungen ist, den gesetzlichen Mindestlohn durchzusetzen, zu einer Diskursverschiebung beim Thema Rentenpolitik beizutragen, und mit der es gelungen ist, für die Gefahren einer weiteren Erosion des Tarifsystems zu sensibilisieren und bei der Stärkung der Tarifbindung voranzukommen.VER.DI PUBLIK: Wobei das Ausmaß der Tarifflucht in den letzten Jahren nicht gerade klein war.BSIRSKE: Absolut. Umso wichtiger ist es, jetzt zu einer Stärkung der Tarifbindung zu kommen. Wenn zum Beispiel die saarländische Landesregierung mit uns gemeinsam auf einer Pressekonferenz ankündigt, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, wonach die Vergabe öffentlicher Aufträge des Landes und der Kommunen im Saarland an die Bedingung der Anbindung an den repräsentativen Tarifvertrag der jeweiligen Branche geknüpft wird, ist das nicht zuletzt ein Erfolg unserer Bemühungen zur Stärkung der Tarifbindung. Und wenn wir über Erfolge reden, muss man auch dreimal unterstreichen, dass es uns in den letzten Jahren in weiten Bereichen des Dienstleistungssektors gelungen ist, kontinuierliche Reallohnzuwächse durchzusetzen, vom öffentlichen Dienst über den öffentlichen Personen-Nahverkehr bis hin zur Geld- und Wert-Branche, den Bodenverkehrsdiensten und der Flugsicherheit. Und zugleich ist es uns gelungen, Leuchttürme in der qualitativen Tarifpolitik zu setzen, im Hinblick auf die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung. Da ist der Tarifvertrag zum mobilen Arbeiten bei der Telekom, da sind die Tarifverträge über Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich, wenn Arbeitsplatzverluste digitalisierungsbedingt drohen, an den Häfen bei Eurogate oder auch in der Versicherungswirtschaft. Da sind die Tarifvereinbarungen über Qualifizierungsansprüche und -zeiten, aber auch zu Demographie-Fonds in Verbindung mit dem Aufbau von Arbeitszeitkonten. Und es ist sicherlich ein Erfolg, dass wir wichtige erste Schritte zur Aufwertung der sozialen Dienstleistungen erreichen konnten, im Sozial- und Erziehungsdienst mit zwei großen Streikbewegungen 2009 und 2015. Wir haben Eingruppierungsverbesserungen im Rahmen einer generellen Neuordnung des Vergütungssystems auch für Krankenpflegekräfte und andere Gesundheitsberufe erreicht und Entlastungstarifverträge zur Personalbemessung im Krankenpflegebereich. All das gehört zu unseren Erfolgen. VER.DI PUBLIK: Gab es auch Rückschläge?BSIRSKE: Natürlich sind diese 18 Jahre keine ununterbrochene Erfolgsgeschichte. Dass wir es nicht vermocht haben, die Agenda 2010 zu verhindern, eine Politik, die darauf angelegt war, Lohnsenkungen leichter zu machen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu entsichern. Dass nach der Finanzkrise in der EU sehr bald eine gegen Arbeitnehmer gerichtete Politik verfolgt worden ist, die die Kräfteverhältnisse zugunsten des Kapitals verschob und extrem unsozial angelegt war. Und dass in Deutschland seit Jahren trotz massiven gesellschaftlichen Investitionsbedarfs die schwarze Null hochgehalten und zum zentralen Erfolgsmaßstab der Finanzpolitik gemacht wird, was in Zeiten von Negativzinsen ökonomischer Unsinn ist und unsozial obendrein – all das gehört zu den Rückschlägen in den letzten 18 Jahren.VER.DI PUBLIK: In ver.di schließen sich Mitglieder aus rund 1.000 Berufen zusammen. Aber ist es nicht auch ein Problem, auch für den langjährigen Vorsitzenden, die alle zusammenzuhalten?BSIRSKE: Ja. Aber es gibt ein starkes einigendes Band zwischen diesen 1.000 Berufen, nämlich gemeinsam mehr erreichen zu können als jede und jeder für sich alleine. Und wir haben in und mit ver.di bewiesen, dass wir mit diesem Zusammenschluss Kraft und Einfluss gewinnen können. Dennoch ist es kein Selbstläufer, diesen Zusammenhalt hinzubekommen. Ich habe als Vorsitzender großen Wert darauf gelegt, neugierig zu bleiben, zuzuhören, das Gespräch zu suchen und lernen zu wollen, was den Mitgliedern wichtig ist. Um so die Organisation nicht primär für, sondern mit den Mitgliedern zusammen zu entwickeln. Dabei Sinn zu bieten und Orientierung, Nähe und Zugänglichkeit, Verlässlichkeit – und bereit und in der Lage zu sein, sich in Themen auch einzuarbeiten.
VER.DI PUBLIK: ver.di, die Mitmach-Gewerkschaft.BSIRSKE: Ja. Mit ganz, ganz vielen aktiven Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben und Verwaltungen, ohne die die gewerkschaftliche Arbeit nicht funktionieren könnte. Und wir bieten der Vielfalt ja auch Raum. Mit spezialisierten Fachbereichen, die sich durch hohe Branchenkenntnis, hohe Fachlichkeit auszeichnen, und insofern auch den jeweiligen unterschiedlichen Bedingungen gerecht werden können. VER.DI PUBLIK: Und welche Perspektiven siehst Du?BSIRSKE: Wir haben zunächst einmal Grund, selbstbewusst zu sein. Nicht selbstzufrieden, aber selbstbewusst. Wir haben mit dazu beigetragen, dass mit den Gewerkschaften in diesem Lande zu rechnen ist und sie Ansehen haben. Und das muss man einmal kontrastieren mit der Stimmungsmache des letzten Jahrzehnts. Als etwa in der Frankfurter Rundschau 2004 eine Karikatur erschien, in der zwei Kinder im Sandkasten sitzen, und das eine bitterlich weint und auf die Frage der Mutter, warum es denn weine, auf das andere Kind zeigt und sagt: „Der hat Gewerkschafter zu mir gesagt.“ Das war auf dem Höhepunkt von Marktgläubigkeit, Deregulierungsfieber und Gewerkschaftsbashing und brachte die Stimmungslage gut auf den Punkt. Davon sind wir heute deutlich entfernt. Das ist gut so – und doch müssen wir mit Blick auf die Mitgliederentwiclung weiter daran arbeiten und tun es auch, einen noch besseren Service zu bieten und unsere Wahrnehmbarkeit und Präsenz im betrieblichen Alltag zu verbessern. VER.DI PUBLIK: Welches sind aus Deiner Sicht die wichtigsten Aufgaben für ver.di in der nächsten Zeit? BSIRSKE: Tarifverträge schützen. Es gilt, entschieden weiter daran zu arbeiten, die Tarifbindung zu stärken. Es gilt, konsequent weiter an einem Kurswechsel in der Rentenpolitik zu arbeiten, aktuell die Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung durchsetzen zu helfen. Und es gilt dazu beizutragen, die Handlungsfähigkeit des Staates zu erhalten, sodass in bezahlbaren Wohnraum, in die öffentliche Infrastruktur, in das Bildungssystem, in die Pflege investiert werden kann. Dazu muss Schluss gemacht werden mit der schwarzen Null und mit der steuerlichen Begünstigung reicher Erben und großer Vermögen.
VER.DI PUBLIK: Also die Rentenpolitik wird auch ein Schwerpunkt bleiben.BSIRSKE: Dafür spricht alles. Die Frage, wie das Rentenniveau in Zukunft ausgestaltet wird, ist nach wie vor hoch umstritten, und es wird intensiver gewerkschaftlicher Anstrengungen und Einflussnahme bedürfen, um der Gefahr massenhafter Altersarmut entgegenwirken zu können. Und natürlich bleibt die Mitgliederentwicklung in ver.di die politischste Aufgabe überhaupt. Da ist schon viel erreicht worden in den letzten Jahren. Das ist gut, aber die Stabilisierung der Mitgliederentwicklung bleibt eine herausragende Aufgabe.
VER.DI PUBLIK: Was gefällt Dir, dem langjährigen Vorsitzenden, an Deiner Gewerkschaft am besten?BSIRSKE: Die Menschen. Die Menschen, die sich in ver.di organisieren und die man bei uns auch kennenlernen kann. Kluge, von deren Erfahrungen viel gelernt werden kann. Engagierte, die es verstehen, Menschen mitzureißen. Menschen, die bereit sind, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen, die voller Ideen stecken und für ihre Ideale einstehen: für die Würde des Menschen und für mehr soziale Gerechtigkeit.
VER.DI PUBLIK: In den Medien heißt es oft: Frank Bsirske ist das Gesicht von ver.di, oder auch, Frank Bsirske ist ver.di. Wie soll es also weitergehen ohne Frank Bsirske?BSIRSKE: Zunächst einmal gilt: ver.di, das sind zwei Millionen Menschen. Das ist der Betriebsratsvorsitzende, die Personalrätin, der Auszubildendenvertreter und die Kollegin in der Mitarbeitervertretung, die das Vertrauen ihrer Kolleginnen und Kollegen täglich von neuem rechtfertigen und ver.di in ihrem Betrieb repräsentieren. ver.di, das sind die vielen Talente, die ver.di immer wieder neue Impulse geben. Und ja, das ist auch der Vorsitzende, der ver.di ein Gesicht gibt. Im September reiche ich auf dem Bundeskongress den Staffelstab weiter. Und wenn der Kongress dem Vorschlag des Gewerkschaftsrates folgt, an Frank Werneke, der dann als Vorsitzender ver.di ein neues Gesicht geben wird. Und ich bin fest davon überzeugt, er wird das gut machen. Zusammen mit einem guten Vorstandsteam, und zusammen mit vielen guten Kolleginnen und Kollegen in den Führungsgremien unserer Organisation.
VER.DI PUBLIK: Was kommt für Dich nach dem ver.di-Vorsitz?BSIRSKE: Das lass ich mal in Ruhe auf mich zukommen. Es gibt so viel Interessantes zu lesen. Ich will meine Sprachkenntnisse verbessern, werde daran arbeiten, körperlich fit zu sein – und ganz sicher ein politisch engagierter Mensch bleiben.
VER.DI PUBLIK: Und was wünschst Du ver.di für die Zukunft ganz besonders?BSIRSKE: In den Dienstleistungsbranchen der gewerkschaftliche Magnet zu sein. Für alle, die für soziale Gerechtigkeit und die Würde des Menschen eintreten. Dazu Gewerkschaft. Dazu ver.di.
INTERVIEW: Maria Kniesburges