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Sorry we missed you

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Eine ganz normale Familie in England: Ricky, der Vater, fährt Pakete aus, Abby, die Mutter, ist Krankenschwester im mobilen Dienst, Teenagersohn Seb(astian) hat keinen Bock mehr auf Schule und geht stattdessen Graffiti sprayen, Nesthäkchen Liza hingegen versucht, aus allem das Beste zu machen. Tatsächlich leidet die Jüngste darunter, dass sie meist allein zuhause ist und nicht einschlafen kann, wenn auch um 21 Uhr noch niemand zuhause ist. Sie erträgt den ständigen Streit ums Geld nicht, das nie über den Monat reicht. Und auch nicht den Streit der Eltern über den Bruder, der von der Schule zu fliegen droht. Eigentlich ahnt man von den ersten Filmdialogen an, in denen sich Ricky um den Ausliefererjob bewirbt, dass das alles nicht gut gehen kann.

In Ken Loachs neuem Sozialdrama ist für Sozialromantik ebenso wenig Platz wie in der Wirklichkeit. Es gibt sie schlichtweg nicht. Loach erzählt von einer Familie, die in der neuen Arbeitswelt gefangen ist, wo Ausbeutung und miese Bezahlung die Realität vieler Menschen bestimmt. Und wenn, dann zeigt sich das schöne Leben in einmal "Indisch Essen to go" und ein anderes Mal darin, dass Liza ihren Vater einen Tag lang beim Ausliefern begleiten darf. Es sind die wenigen Momente des Films, aus denen nicht nur die Familie Kraft schöpft, auch dem Zuschauer scheint – ganz kurz – eine Kehrtwende möglich. Doch die kommt nicht. Erst bricht Mutter Abby nach stundenlangem Gehetze von einem Patienten zur nächsten Patientin an einer Bushaltestelle heulend zusammen. Und dann wird Ricky, während er in einer kurzen Pause in eine hinten im Transporter aufbewahrte Plastikflasche pinkelt, von vier Männern überfallen, zusammengeschlagen und ausgeraubt.

Die sogenannte Gig-Economy, in der der Paketbote als Franchisee auf eigene Rechnung fährt, nach Stückzahlen bezahlt oder eben bei Raub um seinen Verdienst geprellt wird, und die Pflegekraft ihre Arbeit minutiös per Mobilfunk dokumentieren muss, hat soziale Sprengkraft. Das zeigt der Film bis in die kleinsten Details. Seb und Liza wünschten, alles wäre wie früher, als die Familie ein eigenes Haus kaufen wollte, der Bankkredit noch nicht geplatzt war und Ricky, ihr Vater, noch eine anständig bezahlte Stelle hatte. Doch nach dem größten Krach haut Seb ab, und Liza nässt wieder ins Bett. Wie im wahren Leben – das war und ist die Stärke aller Ken Loach-Filme. Auch Sorry we missed you ist solch ein starkes Stück. Ein Muss für Gewerkschafter*innen und für alle anderen erst recht. Petra Welzel

GB/B/F 2019, R: KEN LOACH, D: KRIS HITCHEN, DEBBIE HONEYWOOD, RHYS STONE, KATIE PROCTOR, L: 100 MIN., KINOSTART 30. JANUAR 2020 Am 14. Januar wird es um 19 Uhr 30 eine Filmvorführung im Berliner Kant Kino geben mit anschließendem Podiumsgespräch mit Ken Loach, Andrea Kocsis von ver.di, Sarah Wagenknecht (Die Linke) und Hubertus Heil (SPD).

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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Berlin 1933, kurz vor dem Wahlsieg der Nationalsozialisten. Die neunjährige Anna sitzt auf dem Boden in ihrem Kinderzimmer in Grunewald. Was soll sie einpacken? Das alte rosa Plüschkaninchen, mit dem sie schon so oft gespielt hat, oder den neuen Stoffhund Terri, ein Weihnachtsgeschenk. Schweren Herzens macht der Hund das Rennen. Im ganzen Haus werden eilig die Koffer gepackt. Hals über Kopf muss die jüdische Familie fliehen. Annas Vater, ein Gegner Hitlers und bekannter Schriftsteller und Theaterkritiker, ist bereits nach Prag gefahren. Von einem Polizeibeamten anonym gewarnt, verließ er Berlin über Nacht. In der Schweiz will man sich wieder treffen. Ein behütetes Dasein gerät aus den Fugen. Der berühmte Papa findet in der Schweiz, der ersten Station des Exils, keine Arbeit, die Mama, eine Pianistin, muss kochen lernen. Die Kinder begreifen allmählich, dass es keinen Weg zurück mehr gibt. Die außergewöhnliche Qualität dieses Familienfilms, nach dem gleichnamigen Jugendbuchklassiker von Judith Kerr, besteht in der spröden, unsentimentalen Genauigkeit, mit der Oscar-Preisträgerin Carolin Link Annas Geschichte ernstnimmt, sie nicht zu einem moralisierenden Drama aufbauscht. Trotzdem erlebt der Zuschauer, was die Vokabel Emigra-tion bedeutet. In heutigen Zeiten ein eminent politischer Film. Luitgard Koch

D 2019: R: Caroline Link D: Riva Krymalowski, Marinus Hohmann, Carla u.a., L: 100 Min., Kinostart: 25.12.2019

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Crescendo

Wenn junge jüdische und arabische Musiker gemeinsam ein Konzert geben sollen, denkt man unweigerlich an Daniel Barenboim und sein West-Eastern Divan Orchestra. Die drastischen Konflikte hinter den Kulissen, von denen Regisseur Dror Zahavi in seiner fiktiven Geschichte erzählt, hat man jedoch bislang noch weniger mitbekommen. Bevor Maestro Sporck mit den Proben für ein geplantes Konzert anlässlich einer Friedenskonferenz beginnen kann, erscheint eine psychologische Aufbauarbeit auf neutralem Boden unumgänglich. Fasziniert sieht man Peter Simonischek dabei zu, wie er mit therapeutischen Übungen zwischen Israelis und Palästinensern zu vermitteln sucht. Nach anfänglichen fruchtlosen Bemühungen, in deren Folge die Konflikte noch eskalieren, scheint endlich das Eis zu brechen, als Sporck ihnen von seiner eigenen schrecklichen Biografie als Sohn von NS-Verbrechern erzählt. Eine märchenhafte Kehrtwende steht jedoch nicht zu befürchten. Darin liegt die Stärke des Films, der glaubwürdig, berührend und komplex von einem Konflikt erzählt, der seit über 70 Jahren Todesopfer fordert. Kirsten Liese

D 2018. R: Dror Zahavi. D: Peter Simonischek, Bibiana Beglau, Daniel Donskoy, u. a. 102 Min. Start: 16.1.2020