ver.di publik: Wie wirkt sich die Corona-Krise auf Euer Leben aus?

Karin Schönewolf: Auf den ersten Blick hat sich wenig verändert. Ich arbeite weiterhin in Teilzeit bei der Post als Fahrerin. Für meine ehrenamtliche gewerkschaftliche und feministische Arbeit habe ich weniger aushäusige Termine, dafür mehr Video- und Telefonkonferenzen. Was mir Sorgen macht, ist die sicherlich notwendige Einschränkung der Grundrechte, wie der Versammlungsfreiheit. Sie wird zum Teil mit einer Rigidität umgesetzt, die mich erschreckt. Auch mache ich mir Sorgen um wohnungslose Frauen und um Geflüchtete, die es jetzt noch schwerer haben.

Sandra Goldschmidt – Nach unserem Skiurlaub in Tirol war alles anders. Wir sind 14 Tage in freiwillige Quarantäne gegangen. Die Kinder zu Hause, weil die Schulen ohnehin geschlossen waren, und mein Mann und ich im Home Office. Diese Fünffachbelastung war heavy. Eine rechtlich abgesicherte, bezahlte Freistellung von der Erwerbsarbeit für Eltern in so einer Situation wäre echt dringend nötig. In dieser Situation offenbart sich das grundsätzliche Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch mehr – und die Benachteiligung vervielfacht sich quasi.

Sabine Stövesand: Mir fehlt der direkte, ganzheitliche Kontakt zu anderen, fehlt das Zusammensein in Gruppen, das mehr umfasst als hören und, wenn's besser läuft, immerhin auch sehen – aber immer nur reduziert in diesen kleinen Fenstern auf Monitoren. Der Grat zwischen verantwortlichem Handeln, Verdrängung, unangemessener Normalisierung und eigener Überforderung ist schmal. Wie unter einem Brennglas macht die Corona-Krise Probleme, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeiten noch deutlicher als sonst.

ver.di publik: Ist der Begriff "systemrelevante Berufe", der zur Zeit allgegenwärtig ist, ein tauglicher Begriff?

Schönewolf: Ich habe mich gewundert, dass Baumärkte geöffnet hatten, Buchläden aber nur eingeschränkt. Was ist da systemrelevanter?

Frauenthemen dürfen endlich nicht mehr als Gedöns abgetan werden. Das wird der eigentliche Kraftakt.
Sandra Goldschmidt
Karin_Schoenewolf.jpg
Karin SchönewolfFoto: ver.di Hamburg

Stövesand: Was in systemrelevanten Berufen aussteht, ist die deutliche Anhebung der Bezahlung, und zwar nicht nur per Einmalzahlung. Die Eingruppierung, das ganze Tarifsystem muss verändert werden, denn es benachteiligt die traditionellen Frauenberufe. Da könnte aus der Politik und gerade auch von Gewerkschaftsseite mehr Priorität und Druck entfaltet werden. Hinzu kommt die vermehrte Sorge um diejenigen, die die Krise am stärksten trifft, weil sie ohnehin zuvor schon stark belastet waren, psychisch krank, verschuldet, wohnungslos, materiell prekär, digital abgehängt, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, als Geflüchtete über weniger Rechte und Schutz verfügen, in Sammelunterkünften wohnen müssen. Diese Unterstützungsbedarfe steigen, gleichzeitig sind die Arbeitsstellen mancher Sozialarbeiter*innen bedroht. Das alles kann ein Gefühl der Hilflosigkeit, der Überforderung erzeugen. Aber vielleicht auch die Einsicht, dass es Sinn macht, sich zu organisieren, um bessere Bedingungen zu schaffen.

Goldschmidt: Es ist schon spannend zu sehen, wie schnell jetzt plötzlich Berufe, die wir bisher allenfalls als selbstverständlich betrachtet haben, als "systemrelevant" bezeichnet werden. Wir in ver.di haben immer versucht, die Bedeutung dieser Berufe in die Allgemeinheit zu transportieren. Aber so richtig angekommen ist das dort erst jetzt durch Corona. Deshalb ist es wichtig, dass wir diese Erkenntnis in der breiten Bevölkerung in Zukunft auch dafür nutzen, für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, für eine angemessenere Bezahlung in diesen Berufen zu sorgen – die ja auch überwiegend von Frauen ausgeübt werden.

sandra_goldschmidt.jpg
Sandra GoldschmidtFoto: Kay Herschelmann

ver.di publik: Was muss für Beschäftigte, vor allem für Frauen, kurzfristig im Zuge der Corona-Krise getan werden, was langfristig?

Stövesand: Der Sozialbereich wird nach Aufhebung der Schließungen angesichts der psychischen und materiellen Krisenfolgen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mehr gefordert sein als zuvor schon. Er darf nicht zur Finanzierung der anzunehmenden Stadt- und Staatsschulden gekürzt werden, im Gegenteil, er muss ausgebaut werden. Die offene Kinder- und Jugendarbeit, die soziokulturellen Zentren, Straßen-Sozialarbeit, Stadtteil- und Gemeinwesenarbeit bilden ein Fundament für die nachhaltige Krisenbewältigung und gesellschaftliche Teilhabe.

Goldschmidt: Ich denke, die Erhöhung der Personalschlüssel ist das dringendste Problem und muss so schnell wie möglich angegangen werden. Um Personal zu finden, müssen sich gegebenenfalls auch die Bedingungen ändern, damit diese Tätigkeiten wieder attraktiver werden. Rekommunalisierung ist auch wichtig, gerade im Gesundheitswesen. Es ist schwer einzusehen, dass mit Gesundheit Profit gemacht wird – aber das wird sich nicht von heute auf morgen ändern lassen.

Schönewolf: Als erstes brauchen die Beschäftigten überall da, wo es nötig ist, ausreichend Schutzkleidung – z.B. in Pflegeheimen und Kliniken. Langfristig brauchen wir eine vernünftige Personalbemessung. Bei der Post brauchen wir auch mehr Schutzkleidung und Desinfektionsmittel und eine konsequentere Einhaltung der Schutzmaßnahmen. Niemand kann heute prognostizieren, wie lang die Krise und damit die Ansteckungsgefahr bleiben. Insgesamt brauchen wir für alle systemrelevanten Arbeiten bessere Bezahlung ohne großartige Tarifauseinandersetzungen und vernünftige Arbeitsbedingungen – und einen angemessenen Freizeitausgleich.

Sabine-Stoevesand.jpg
Sabine StövesandFoto: Renate Leonhard

ver.di publik: Die Hamburger Arbeitnehmerinnen leisten Gewaltiges in der Corona-Krise. Was wird passieren, wenn die wirtschaftliche Entwicklung Hamburgs in den Vordergrund rückt?

Goldschmidt: Meine große Befürchtung ist, dass am Ende die großen Unternehmen und die Wirtschaft im Allgemeinen durch Soforthilfen, Milliardenkredite sowie das Kurzarbeitsgeld immer noch ganz gut da stehen, wenn sie sich nicht sogar "gesund geschrumpft" haben. Viele, viele Beschäftigte werden hingegen ihren Job und/oder ihre Wohnung verloren haben oder müssen ihren Lebensstandard drastisch senken. Genau das kann und darf nicht sein. Hier wird es besonders wichtig sein, dass wir alles tun, um die vielen Normal- bzw. Niedrigverdiener*innen und Grundsicherungsbezieher*innen zu unterstützen. Das Geld dafür müssen wir bei denen holen, die es haben: bei den Unternehmen und den Spitzenverdiener*innen.

Schönewolf: Klar muss auch die Wirtschaft wieder in Gang kommen. Gleichzeitig habe ich die Sorge, dass überwiegend größere Firmen Unterstützung bekommen und die für die Solo-Selbstständigen nicht ausreicht.

Stövesand: Die großen Leistungen der Hamburger Arbeitnehmerinnen werden verpuffen, wenn es keine starke Bewegung gibt, die sich für die miteinander verbundenen Themen Arbeit, Umwelt und Soziales, und das schließt explizit Anti-Rassismus ein, stark macht. Es wäre erfreulich, hier die Gewerkschaften offensiver zu sehen, partizipativ und partnerschaftlich mit anderen Organisationen und sozialen Bewegungen. Arbeitsbedingungen, Löhne, Lebensqualität lassen sich nicht allein in isolierten Kämpfen verbessern.

ver.di publik: Es wird befürchtet, dass in Folge der Einschränkungen durch den Shutdown häusliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen zunimmt. Was muss sich da in Hamburg verändern?

Schönewolf: Ich teile die Befürchtung, dass die Gewalt gegen Frauen in diesen Zeiten zunehmen kann. Gleichzeitig habe ich Hoffnung, dass die wachsende und funktionierende Nachbarschaftshilfe wie "StoP Steilshoop" sie eindämmen kann. Und nach Lockerung der Corona-Maß-nahmen braucht es Finanzierung für Gewaltprävention in allen Stadtteilen. Gewalt gegen Frauen ist eines der Schwer- punktthemen der ver.di-Frauen und wird uns nicht nur dieses Jahr beschäftigen.

Goldschmidt: Frauenthemen dürfen endlich nicht mehr als Gedöns abgetan werden. Das wird der eigentliche Kraftakt. Es wird ja bereits jetzt gelegentlich diskutiert, dass die Krise zeige, wie viel wichtiger Virologie- und Pandemiewissenschaften seien. Da müssen wir deutlich gegenhalten.

Stövesand: Gut wäre, wenn es ein geschärftes Bewusstsein für die – gerade auch in einer solchen Krise – unterschiedlichen Betroffenheiten und Möglichkeiten aufgrund von Privilegien und Ausgrenzungen gäbe, nicht nur in Bezug auf Geschlecht und Klasse, sondern auch in Bezug auf Ethnie oder Trans. Und wenn es auf dieser Grundlage ein übergreifendes Miteinander gäbe, das Gemeinsamkeiten findet, ausbaut und kampagnenfähig wird, wäre viel gewonnen.