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Die richtige Richtung einschlagen – bei der Ernähung ist das heute gar nicht mehr so einfach. Autor Manfred Kriener hat ein Infopaket geschnürtFoto: Niall Carson/PA Wire/dpa

ver.di publik: In Deutschland geben die Haushalte durchschnittlich nicht einmal 11 Prozent für Lebensmittel aus – deutlich weniger als in fast allen anderen EU-Ländern. Wie erklären Sie das?

Manfred Kriener: Die Schnäppchen-Mentalität ist in Deutschland ja weit verbreitet. Wenn es ums Motorenöl fürs Auto geht, dann darf der Liter gerne 40 Euro kosten, wenn es um Öl für den eigenen Bauch geht, dann muss es für 2,99 Euro zu haben sein. Die ökologischen und sozialen Kosten sind bei vielen Lebensmittelpreisen in Deutschland heute nicht gedeckt. Vor Corona hatten wir die Schattenarmee der osteuropäischen Arbeitskräfte, die unsere Schweine schlachtet und den Spargel sticht, nicht wirklich auf dem Schirm. Der demonstrierende Pfarrer Peter Kossen hat im Grunde Recht, wenn er die Zustände in den Schlachthöfen als Sklavenhaltung beschreibt.

ver.di publik: Seit wann hat sich das so entwickelt?

Kriener: Die Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen waren wahrscheinlich immer schlecht, aber wir haben nie so genau hingeschaut. Auch die Umwelt- und Tierschutzbewegung muss sich fragen lassen, ob sie das Tierwohl höher gehängt hat als das Menschenwohl. Die Haltungsbedingungen von Schweinen waren immer ein großes Thema, aber wie die Leute in den Schlachthöfen untergebracht sind und wie sie bezahlt werden, ob es Tarifverträge und Dolmetscher gibt, das stand kaum im Fokus. Bei den Schlachthöfen will es sowieso niemand so genau wissen, was da mit den Blitzmessern und Bolzenschussgeräten passiert. Das war im Prinzip eine perfekte Ergänzung: Die Branche umzäunt diese Nicht-Orte mit Stacheldraht, und die Gesellschaft verdrängt, was darin passiert. Abschottung und Verdrängung.

ver.di publik: Wer ist dafür verantwortlich?

Kriener: Das ist ein Zusammenspiel von Markt, Staat und Verbrauchern. Die rasende Taktung des Tötens und die schlechte Bezahlung durch ein System von Sub-Sub-Subunternehmen mit Werkverträgen führt dazu, dass Fleisch viel zu billig ist. Auch der Druck auf die Produzenten ist riesig, die Tiere so rasch wie möglich zum Schlachtgewicht zu katapultieren. Supermärkte und Kundschaft spielen ebenfalls mit. In diesem System bedingt das eine das andere und führt dazu, dass am Ende ein Schnitzel für 1,49 Euro im Kühlregal liegt.

ver.di publik: Hat sich die Politik da von Lobbyisten einseifen lassen?

Kriener: Die Politik hat weggeschaut, Kontrollen gab es offenbar auch nicht. Auch den Gewerkschaften ist es nicht gelungen, das Thema so hoch zu ziehen, dass es eine gesellschaftliche Debatte gegeben hätte. Der Mindestlohn ist immer ausgehebelt worden. Das ist in Schlachthöfen so, aber genauso bei der Traubenlese. Die Arbeiter müssen für die Unterbringung in Mehrbettzimmern oder Containern viel Geld zahlen, und wenn sie Verpflegung bekommen, wird das auch verrechnet.

ver.di publik: Muss Fleisch also teurer werden?

Kriener: Ja, und der Preis muss auch die ökologische Wahrheit sagen. Die Viehwirtschaft stößt mehr klimaschädliche Gase aus als der gesamte Transportsektor. Ein Kilo Roggenbrot verursacht 700 Gramm CO₂, ein Kilo Rindfleisch 28 Kilogramm. Für das Vieh, das in Deutschland auf den Tisch kommt, gibt es fast mehr Futterflächen in Paraguay, Argentinien und Brasilien als im Inland. Auch für unseren Fleischkonsum wird Urwald gerodet und abgefackelt.

ver.di publik: Zugleich ist Essen heute ein starkes Identitätsmerkmal geworden: Man ist, was man isst.

Kriener: Ja, die Identität geht durch den Magen. Ständig wird über Essen und Ernährung geredet, es gibt permanent Kochshows im Fernsehen, die Leute posten Fotos von ihren Tellern. Zugleich hat das Essen seine Leichtigkeit verloren, seine Selbstverständlichkeit. Sich einfach nur hinsetzen und das Essen genießen, ist heute gar nicht mehr ohne weiteres möglich.

ver.di publik: Warum nicht?

Kriener: Früher hatten wir Appetit auf dies und das, heute haben wir Ernährungspyramiden und Klimabilanzen. Außerdem ist Essen Weltanschauung – und da ist vieles moralisch aufgeladen. Fleisch gilt in vielen Kreisen als prollig und ranzig, die vegane Bewegung ist ein wichtiger Taktgeber in der Debatte geworden. Vegan erscheint als schick, trendy, jung. Da gibt es Hollywoodstars, und auch Fußballspieler wie Luca Waldschmidt von meiner Mannschaft SC Freiburg ist Veganer. Selbst auf dem letzten Oktoberfest, diesem Inbegriff von Bier und Fleischrausch, gab es 38 vegane Angebote.

ver.di publik: Weltweit nehmen Fehl-ernährung und Übergewicht zu, Adipositas ist eine Volkskrankheit geworden, schreiben Sie in ihrem Buch. Wie kommt es dazu?

Kriener: Fettleibigkeit gibt es auf allen Kontinenten. Adipositas breitet sich aus, wo die westliche Ernährungsweise und die Supermarktisierung Raum gegriffen haben. Obwohl es sich um eine globale Entwicklung handelt, wird damit so umgegangen, als ob es sich um ein individuelles Problem und persönliches Versagen handele. Das Thema ist schambesetzt, man sagt den Leuten, sie sollten mehr Sport treiben. Viele versuchen es immer wieder mit Diäten und fettreduzierten Produkten. Dabei ist eine der zentralen Ursachen der weit verbreiteten Fettleibigkeit, dass immer mehr industriell verarbeitete Produkte konsumiert werden. Und horrende Mengen an oft verstecktem Zucker.

ver.di publik: Warum verwenden die Hersteller so viel Zucker ?

Kriener: Zucker ist billig und wird häufig als Füllstoff benutzt, auch in Produkten wie Pizza, Ketchup oder Wurst, in denen man ihn gar nicht vermuten würde. Zucker ist Geschmacksverstärker und er konserviert – für die Ernährungsindustrie ist er der ideale Stoff mit unendlich vielen positiven Eigenschaften. Eine Untersuchung über Fertigmüsli ergab, dass manche Produkte bis zu 40 Prozent Zucker enthalten. Problematisch sind auch Säfte, Limonaden und Colagetränke. Viele Leute denken, dass sie sich etwas Gutes tun, wenn sie sich einen Fruchtsaft kaufen, weil sie darin viel Vitamin C vermuten – und übersehen die oft extremen Zuckermengen, die sie damit zu sich nehmen.

ver.di publik: Wie können Verbraucher diesen versteckten Zucker erkennen?

Kriener: Dafür bräuchte es eine klare Kennzeichnung und Warnhinweise. Allerdings wehrt sich die Ernährungsindustrie dagegen – und mit ihr Agrarministerin Julia Klöckner, die sich zum Knecht der Branche macht. Nötig wären außerdem Werbeverbote für bestimmte Produkte, die an Kinder adressiert sind. Auch eine Zuckersteuer wäre denkbar – es gibt eine Reihe von Instrumenten.

ver.di publik: Existieren internationale Vorbilder?

Kriener: Ja, Chile ist ein Vorreiter und auch Mexiko. Selbst Länder wie Saudi-Arabien sind weiter als Deutschland.

ver.di publik: Können Sie selbst das Essen noch genießen?

Kriener: Ich bin ein robuster Esser und habe begriffen, dass man nicht alle ökologischen und ethischen Aspekte bei jedem Einkauf immer mitdenken kann. Wie viele Flugstunden hat die Ananas hinter sich, wie wurde das Hähnchen gehalten, hat man den Spargelstechern den Mindestlohn vorenthalten? Bei jedem Lebensmittel stellen sich Fragen. Ich finde es wichtig, die Moralkeule auch mal zu Hause zu lassen und sich selbst gegenüber ab und zu ein Auge zuzudrücken. Aber es gibt rote Linien.

ver.di publik: Warum haben Sie das Buch "Lecker-Land ist abgebrannt" geschrieben?

Kriener: Jeder hat seinen eigenen inneren Aushandlungsprozess, nicht nur bei der Ernährung, sondern zum Beispiel auch beim Thema Mobilität. Den inneren Kompass muss jeder für sich selbst finden. Ich hoffe, dass ich mit meinem Buch ein Informationspaket geschnürt habe, damit die Leute das Rüstzeug haben, um sich zu orientieren. Damit sie wissen: So hat ein Lachs gelebt, so sieht es in einem Biostall aus, wie weit ist die Forschung mit der Züchtung von Fleisch im Labor.

ver.di publik: Was ist Ihr persönlicher Kompass?

Kriener: Ich esse keinen Zuchtlachs mehr und kein Fleisch von Tieren aus konventioneller Haltung. Ich bin mit Tieren aufgewachsen, wir hatten eigene Hühner, Puten, Tauben, Kaninchen und Schweine am Haus. Für mich war es völlig normal, dass ein Tier irgendwann geschlachtet wurde, und ich esse für mein Leben gern Hühnchen. Ich freue mich auf einen Festschmaus am Wochenende und bin mindestens zwei Tage in der Woche Vegetarier. Interview: Annette Jensen

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Das Buch

Manfred Kriener: Lecker-Land ist abgebrannt: Ernährungslügen und der rasante Wandel der Esskultur, Hirzel-Verlag, 238 Seiten, 18 Euro

Der Autor

Manfred Kriener, Jahrgang 1953, lebt als Journalist und Autor in Berlin. Er gehört zur Gründer- generation der taz, war Gründungschefredakteur für das Slow-Food-Magazin und das Umweltmagazin zeozwei und schreibt als freier Autor über Klima, Umwelt, Essen und Trinken.